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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Brust und auch sein Rücken sind behaart. Alles ist so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Nichtwolken
    Deine Sonnenbrille liegt auf meiner Bettkante. In ihren Gläsern spiegelt sich die Landschaft meiner Kissen und Decken und dazwischen meine nackten Füße. Im Hintergrund sieht man Federn pendeln. Natürlich sehe ich die Brille nicht, aber ich weiß, dass sie da liegt. Mentale Kamerafahrt, ich gleite durch mein Zimmer, durch die Federn hindurch bis in die Spiegelung der Brille. Ich sehe meine Zehen und wackle mit ihnen. Cut.
    Erst öffne ich ein Auge, dann beide, bin froh, allein zu sein. Öffne meine Augen ein Stück weiter. Meine Mikadostäbchen liegen auf dem Boden verteilt, ohne dass ich mich erinnere, wie sie da hinkamen. Das bedeutet, dass ich wieder geschlafwandelt bin. Als ich aus dem Bett steige, bemerke ich, dass auch die Schneiderpuppe, die mir für gewöhnlich als Kleiderhaken dient, umgestoßen ist. Hast du keine Angst, eines Tages vom Dach zu fallen, fragte mich Borg einmal. Nein, habe ich nicht, sagte ich trotzig.
    Nach zwanzig Minuten intensiver Nachforschungen vor dem Badspiegel bin ich immer noch nicht sicher, ob ich dieselbe bin wie vor vierundzwanzig Stunden. Ich unterbreche meine Untersuchungen, um auf der Dachterrasse eine der Cohibas zu rauchen, die mir Blaum geschenkt hat. Der Zigarillorauch ist beinahe zu viel, zu stark für so einen Morgen. Mein Blick wandert auf den Nachbarbalkon. Durch eine Schicht dünner Gardinen kann ich ein Sofa von hinten sehen. Vor dem Sofa läuft ein Fernseher, Standbild. Die junge Frau mit dem gelben Kopftuch geht im Zimmer auf und ab, trägt allerdings heute kein Kopftuch. Was sie tut, kann ich nicht erkennen, vielleicht telefoniert sie. Der Himmel gibt sich gestreift, Wolke, Nichtwolke, Wolke, Nichtwolke. Ich atme meinen Rauch in dieses Zebra von Himmel und bemerke, dass ich glücklich bin. Durch das Plingpling der Plastikperlen schlüpfe ich zurück ins Haus.
    In den unteren Geschossen ist Leben. Matti singt unter der Dusche, Borg beklimpert das Klavier, Lora schlägt Eier auf. Die Geräusche im Haus vermischen sich zu einem warmen Alltagsklang. Ich lasse absichtlich alle Türen offen. Nach einer Stunde Gefinger auf der Gitarre gehe ich hinunter und erweitere den Klangsalat um das Gurgeln der Kaffeemaschine.
    Bei meinem ersten Kuss kniete ich in einer Holzkiste auf dem Dachboden meiner Großmutter. Es war ein tiefer, feuchter Kinderkuss, der mich bis in die Kniekehlen kitzelte. Ich sprang auf und schüttelte mich. Moritz schien es ähnlich zu gehen, er ließ sein Holzschwert fallen, hüpfte über den Dachboden wie ein Verrückter, streckte seine rosa Zunge in die Luft und lachte. Dasselbe Kitzeln überkommt mich, als ich beginne, Kaffee zu trinken und an dich zu denken. Ich muss mich beherrschen, nicht sofort und ohne Schuhe auf die Straße zu laufen. Ich stelle meinen Kaffeerest ab und suche ein Paar Pantoletten heraus.
    Die Straßen sind weit und voller Licht. Ich schiebe mir deine Sonnenbrille auf die Nase. Von einer Kirche dringt Geläute her, die Luft ist ein flirrender Klang. Ich zirkle im Tanzschritt um Blumenkübel, Obstkisten und Hunde herum. Es ist Markttag. Das Fliegengewicht der Sonnenbrille, silbern verspiegelt, übt genau den leichten Druck aus, den meine Nasenflügel brauchen, die zarte Erinnerung: Du hast ein Gesicht.
    Ich klappere meine Pantoletten durch ein Paar sich schließender Türen. Die Stadtbahn, blaue Scheiben, Klimaanlagenluft und blassblaue Polster unter meinem Hintern. In der Geschichte, die mein Kopf sich erzählt, ist es ein Frühlingshintern, obwohl schon Sommer ist, weil das Gefühl in den Backen zum Frühling gehört, zu Löwenzahnmilch und Wasserläufern. Ein Aprilgefühl im Juli.
    Es ist egal, in welchem Zug ich sitze, egal, ob ich ans Meer fahre oder nur drei Stationen weiter, immer erscheint mir das Losfahren des Zuges als ein großer Moment. Beim ersten Ruckeln des Waggons geht ein Zucken durch meine Mundwinkel, weniger als ein Lächeln, mehr als ein bloßer Reflex. Oft ist es der Moment, in dem meine Finger zum Startknopf wandern, in dem Musik die Regie übernimmt. Einer der vielen Videoclips, die auf meiner Netzhaut ablaufen, beginnt, Großstadtclips, Gesichtercollagen, Alltagsdokus, kleine Stegreifproduktionen, oder fliegende Landschaften, Stadtsilhouetten, Wolkenvideos. Auch heute perlt die Musik an mir herunter, eine aurale Dusche, ein Frühlingsguss, ich lächle mein Fastlächeln. Die Musik gibt mir das Gefühl,

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