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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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dass es Momente gibt, die mir allein gehören.
    Ich betrachte die Venen auf der Innenseite meiner Arme. Meine Haut ist weich und durchsichtig. Beim Blutabnehmen werde ich immer für diese klaren blauen Linien gelobt. Ich drehe den Arm um. Mein Nagellack hat dasselbe Blau wie die dunklen Linien unter meiner Haut. Ich könnte irgendwer sein, denke ich, trage blauen Nagellack, will wenigstens nicht wie irgendwer aussehen, violette Pantoletten, will wenigstens nicht wie irgendwer rumlaufen.
    Es gibt Leute, die in jedem Licht gleich aussehen, und ein Paar neuer Schuhe verändert nicht ihren Gang. Ihr Problem ist, dass sie sich nicht verwandeln können. In neuen Kleidern fühlen sie sich nicht wohl, geschminkt wirken sie nur ein bisschen künstlicher als vorher. Sie sehen aus wie immer, was man ihnen auch antut, selbst ein blaues Auge entstellt sie nicht. Ich hingegen verwandle mich viel zu leicht. In ein Kleidungsstück kann ich schlüpfen wie in eine Haut. Mein Problem ist eher, dass ich nicht dieselbe bleibe. Und es geht nicht nur um Klamotten, Nagellack, Schuhe oder ein blaues Auge. Selbst neue Meinungen und Blickpunkte legen sich mir nahtlos an. Ich weiß nie, welche meine eigenen sein sollten, Terror, Atomkraft, Bildungsreform, was weiß ich schon. Ich genieße Immunität gegenüber dem ganzen Identitätsblabla. Muss mich gar nicht entscheiden. Wenn es nicht so viel Aufwand wäre, würde ich auch meine Haarfarben wechseln wie die Unterhosen.
    An der nächsten Haltestelle tritt ein magersüchtiger Junge in meinen Hirnclip und schmollt. Er ist jünger als ich, trägt Schwarz und eine Gewitterwolke überm Kopf spazieren. So gut er eben kann, bestraft er die Welt mit seinen großen Augen, auch mich beginnt er zu mustern. Er bohrt seinen Apokalypseblick durch die Gläser meiner Sonnenbrille. Ich halte stand. Vielleicht ist es seine Art zu flirten.
    Während wir uns anstarren, beginnt ein neues Musikstück. Keins der Musikstücke, die dir Zeit lassen, dich langsam einlullen. Sondern ein Musikstück wie ein Transrapid. Es erfasst mich frontal und ohne Vorwarnung. Mein Blick gleitet von dem Gewitterjungen ab und hinaus in die Stadt. Mir steigen Tränen in die Augen, ohne dass ich weiß, warum.

Flanell
    »Welches Parfum benutzt du?«
    Ein verwaschender Blondschopf taucht neben mir auf. Riecht an meinem Hals. Ich pflücke die Musik aus dem Ohr, das dem Blondschopf am nächsten ist, nehme die Sonnenbrille ab. Ich sage Peer, dass ich heute kein Parfum trage. Er nutzt die Gelegenheit, mir ein Kompliment über meinen Geruch zu machen, und beginnt über sein Hotel zu reden. Über Gäste, die im Hotelzimmer ihre Hamster begraben, über ältere Frauen, die Champagner bestellen, um diesen süffisant lächelnd und nackt in Empfang zu nehmen, über Männer, die unter falschem Namen in ein Doppelzimmer einchecken, das Bett verwüsten, die Minibar leeren, am nächsten Morgen spurlos verschwinden und niemals die Rechnung bezahlen. Ich forme mit den Lippen lautlos Peers Namen. Peer, was hast du in meiner Geschichte verloren, Peer, und warum ist dein Haar so transparent.
    Als wir die Haltestelle erreichen, wo ich aussteige, lege ich meine Hand auf seine Schulter. Es ist eine unwillkürliche Bewegung. Denk dir nichts dabei, Peer. Die Sonnenbrille wandert zurück auf meine Nase, leicht, selbstverständlich. Fast hätte ich vergessen, den Gewitterjungen mit einem Blick zu verabschieden.
    Erzähl mir alles, erzähl mir immer alles, sagst du in meinem Kopf. Das ist der Grund, warum ich unterwegs bin. Ich muss erzählen. Ich muss auf dem roten Teppich liegen, der in der Mitte deiner Wohnung liegt und dick wie ein Bärenfell ist, und erzählen. Dass ich dir den ganzen Morgen schon erzählt habe, fällt mir erst jetzt auf, ich habe dir von einer Postkarte erzählt, von Marquis de Sade und von Saskia, von Azaleen, einem Ochsenhintern und Frühlingsgras. Wem, wenn nicht dir, gehören die Dinge erzählt.
    Wenn du ein Geheimnis hast, steig auf einen Berg, heißt es in einem meiner Lieblingsfilme. Finde einen Baum und schneide ein Loch in seine Rinde. Dort flüstere dein Geheimnis hinein und verschließe das Loch mit Lehm. So wird es nie jemand erfahren.
    Mein Geheimnis ist nicht der meeräugige Blaum. Ich werde dir alles über ihn erzählen. Wenn du willst, seinen Haarflaum, seinen breiten Rücken beschreiben, die Szene mit seinem Atem und dem Geräusch fallender Schlüssel unterlegen, dich in Details ertränken. Natürlich willst du nicht ertränkt

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