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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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beginnen unsere Gespräche über Blaum, dich und mich. Du bist nicht wirklich überrascht, nicht wirklich glücklich, weißt nicht, wohin es weitergeht, und lässt dich treiben. Ich liebe dich und lasse es dich spüren, wann immer ich kann. Draußen regnet es weiter, regnet so stark, dass die Brunnen in der Altstadt überquellen.
    Am ersten Freitag im August bin ich ausgelassen, beseelt, kann mir nicht helfen, euphorisch, und denke, dass es keinen Grund gibt, nicht selbstverliebt zu sein. Das Cover eines Buches bringt mich auf diesen Gedanken. Eine junge Chinesin ist darauf zu sehen, die Lippen künstlich rot. Das Schwarze ihrer Augen ist groß, und das Weiße hat auf dem Bild einen Blaustich. Ihre Wimpern sind tuschig verklebt. Ich weiß nicht, was mich bei jungen Asiatinnen so anspricht, es ist eine Vertrautheit, eine Hassliebe, eine kleine Rivalität im Gefühl, vielleicht wie bei zwei Edelhuren, die denselben Mogul bedienen. Ich kaufe das Buch. Der Regen macht kleine Knistergeräusche auf der Tüte.
    Nach und nach heben sich auch deine Mundwinkel. Dass du dich von meiner Stimmung anstecken lässt, macht mich noch euphorischer. Ich lade dich zu einer White Lady im Mokusei ein. Der japanische Kellner trägt sandfarbene Seide. Die Nacht beginnt.
    Zwei Stunden, sechs Cocktails später, treten wir hinaus in die nassen Straßen. Du drückst mich an eine Hauswand und küsst mich. Am Haaransatz bekomme ich kleine Locken von der feuchten Luft, Nieselfrisur, Wetterlocken. Von einer Menschenmenge lassen wir uns in einen anderen Club treiben. Nachdem ich ein paar Tracks lang getanzt habe, in den Niesel mischt sich Schweiß, packst du mich am Handgelenk, ziehst mich wie eine Stoffpuppe hinter dir her. Zwei Blocks weiter steckst du mich in den Aufzug eines großen Parkhauses. Wir fahren nach oben, vier, sechs, acht Stockwerke, schwindelschnell. Oben, auf dem Sonnendeck, parkt niemand mehr. Auf einer Brüstung, meine Kleider werden schmutzig, küssen wir uns weiter, mein Gleichgewichtssinn hängt am seidenen Faden, ich klammere mich fest. Die Augen werden so weit, das Licht so hell, die Farben der Neonreklamen sind überwältigend. Die Parkdecks werden zu Raumschiffen, aufeinandergeparkt, und beginnen, sich surrend zu bewegen, werden nach und nach in den Nachthimmel abheben und irisierende Lichtspuren hinterlassen. Alle Orte, Paris, Tokio, die Marswüsten, liegen nur einen Schritt weit. Die Welt offenbart wieder ihre berauschende Schieflage, ihre aberwitzige Krümmung. Alles wird zum Abgrund, sogar dein Mund, ich sehe einstürzende Hochhäuser, brechende Brückenträger, und zehn Kilometer weiter fliegen die Flughafenterminals in die Luft. Meine Untergangsromantik tobt sich an der umgebenden Stadtarchitektur aus.
    Wir taumeln hinunter, hinaus, wieder auf die Straße, zurück in die Goldlaube, nach oben, in mein Zimmer. Bevor du einschläfst, erklärst du mir, dass man wirklich wollen kann, dass die Geliebte einen aufisst, verspeist, sich einverleibt mit Haut und Haar.
    Ich selbst kann nicht schlafen. Habe den toten Punkt überschritten. Ich öffne ein Fenster und lehne mich hinaus. Trauer überfällt mich, dass ich meine eigene Geschichte, selbst wenn ich eines Tages an ihr Ende gelange, nicht begreifen werde. Am Ende wird sie mir entgleiten. Und jetzt, mittendrin, ist alles wirr. Nie, zu keinem Zeitpunkt, kann ich sie in die Hand nehmen, umfassen, eine feste Kugel, eine glatte Murmel. Nur die Götter können das. Nur Unsterbliche sehen eine Geschichte in ihrer Gänze, in Vogelperspektive, können ihre Schleifen und Muster erkennen, das ganze Labyrinth. Mich lassen sie dort nicht hinauf. Ich kann nur immer diese Ahnung, diese Angst haben, etwas atmet zwischen den Sekunden meiner Geschichte, in jedem Augenblick, etwas Starkes, etwas Schmerzliches. Kann nur weitererzählen, der Bilderflut im Kopf nachgeben, nicht umfallen, standhalten. Die Worte kommen von allein, wirbeln mir um die Ohren wie Musik. Die Ohren, diese Ohren müssen musikalischer werden, denke ich, noch musikalischer, ich will in jeder einzelnen Phrase das ganze Stück hören können. Übermenschlich wäre das. Ich bräuchte nie wieder mehr als den Moment, das ewige Nun, jenes Zweideutige, worin Zeit und Zeitlosigkeit einander berühren.
    Ein neuer Donner kracht mich an. Gewitter mochte ich schon als Kind. Der Wind quirlt den Himmel durch. Die Götter fahren da oben Karussell, denke ich, lachen in ihrer Wettersprache.
    Meine Geschichte ist plötzlich nicht mehr

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