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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Ziegenfelle liegen darin und Zigarillos, Satinbettwäsche und bei Nacht Blaums stierschwerer Körper. Es ist nicht der schlechteste Ort.
    Zugegeben, Blaum ist keine großartige Nummer. Er ist kein Liebesvirtuose. Er ist ein solides Stück Fleisch, ein Durchschnittsliebhaber. Ein Mann ohne Genie und Eskapaden, dafür voll innerer Bruchstellen und Hohlräume, wie die meisten Menschen. Mit seinem Lasttiernacken drängt er stur geradeaus. Nur wenn er wütend oder traurig ist, schwenkt der Kopf nach links und rechts, peitscht durchs Gras oder nimmt etwas auf die Hörner.
    Seine Meeraugen werden langsam zu Heimatgewässern. Die Fältchen drum herum kenne ich auswendig. Ich weiß, dass seine unteren Augenlider sich oft röten, dass seine Haut schnell austrocknet, dass er höllische Sonnenbrände bekommen kann. Die erbsenkleine Narbe auf seiner Wange finde ich blind. Oder die Stellen, wo sein Brusthaar Wirbel hat. Wenn ich mich verliebe, trage ich keine rosa Brille, denke ich, sondern Vergrößerungsgläser.
    Blaum redet von Fonds, Fusionen und Mandanten. Blaum redet von Urlaub. Blaum redet von Landhäusern in der Provence und sieht müde aus. Auf dem Tisch stehen leere Weingläser. Der Fernseher ist auf lautlos gestellt. Luftbilder verwüsteter Küstenstreifen. Militärhubschrauber, die Wassermassen über desolaten Reaktorblöcken abwerfen. Ich lausche Blaums Geschichten wie unter Drogen, mit glänzenden Augen, vielleicht noch müder als er. Dann schlafen wir ein, mitten im Gespräch, unter dem Flimmern der Katastrophenbilder. Ich wache auf, als Blaum mich ins Bett trägt. Tauche sofort wieder unter, Löschfahrzeuge, Meerwasserfontänen.
    Ich träume von einem seltsamen Wesen, halb Nackthund, halb Echse. Es leckt meine Hände. Seine Zunge ist rau und trocken. Sie ist verzweigt und gefaltet. Genau genommen hat sie die Form einer ledrigen Nelke, die sich öffnet und schließt. Plötzlich stiebt ein Schwarm Kolibris in den Himmel, und ich fliege mit den leuchtenden Vögeln auf. Ich bin nicht nur mitten unter ihnen, nein, die schwirrenden Flügel sind mein Temperament, meine Willenskraft, meine Seele, falls es so etwas gibt. Der ganze Schwarm bin ich. Irgendwann bemerke ich, dass ich meine Vögel nicht länger zusammenhalten kann, der Schwarm stiebt immer weiter auseinander. Ich drohe meine Konturen zu verlieren. Zu zerreißen. Ich wache auf.
    Der Morgen ist hell und sonnig. Viel vom Gesumm der Stadt dringt durch Blaums weit geöffnete Balkontür. Er frühstückt Speck und Eier. Mir ist flau, deshalb knabbere ich nur rohe Salatblätter und schnuppere vorsichtig am Kaffee. Blaum beobachtet mich. Unvermittelt beginnt er zu lachen.
    »Du erinnerst dich an nichts?«, fragt er.
    Ich schaue nur fragend.
    »Du hast mir heute Nacht eins übergebraten.«
    »Was? Echt?«
    »Ja, du hast mir eins übergebraten«, wiederholt er süffisant, »und ausgeschlagen wie ein Wildpferd.«
    »Habe ich was gesagt?«
    »Nein. Nicht dass ich wüsste. Nur um dich geschlagen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht.«
    Er mustert mich und muss wieder lachen. Danach hätte ich einfach weitergeschlafen. Hätte nicht auf seine verwirrten Fragen reagiert. Ich beiße von einem tellergroßen Salatblatt ab, Kaninchenblick, Unschuldsmiene kann ich gut. Ich muss nicht in meinem Gedächtnis kramen. Da ist nichts. Nicht die leiseste Erinnerung.
    Es ist wie immer. Ich schlafwandle und kriege selbst am wenigsten mit. Blinde Impulse, Machtlosigkeit, Bewusstlosigkeit, das Mondsuchtfräulein. Ich weiß nicht einmal, wie oft es ausgeht. Ich versuche, mir seinen Gesichtsausdruck vorzustellen, vielleicht hat es keinen. Trotzdem, auf genauso blinde Weise, wie es meinen Körper benutzt, vertraue ich dem tollwütigen Dornröschen. Es wird schon wissen, was es tut.
    An meine Träume dagegen erinnere ich mich, oft und ohne Anstrengung. Mein Traumleben nimmt einen beachtlichen Teil meiner Erinnerungen ein. Die Orte meiner Träume, weite Landschaften, Stadtteile oder Zimmer, sind mir so vertraut wie die Straße, in der ich wohne. Viele dieser Orte besuche ich mehrmals. Ich kann fliegen im Traum oder reiten oder exzellent mit einer Waffe umgehen. All das fliegt mir im Schlaf zu. Ich bin mein eigenes Abenteuerkino, tauche in die Leinwand, werde Film. Was aber mein Körper macht, während ich schlafwandle, davon habe ich keine Ahnung.
    Blaum verputzt die letzten Speckreste und trinkt ein Glas Milch. Aus der Stereoanlage dringt Gesang, Klavier. Ich drehe lauter, Fauré, und schließe

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