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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Jahren in Brasilien. Die Arglosigkeit, mit der die Geschichten über Saskias Lippen kommen, erinnert mich an Peer, erinnert mich an alle einsamen Wölfe.
    »Kennst du das?«, fragt sie manchmal, mitten im Gespräch, wenn ihr etwas besonders wichtig ist.
    Wann immer ich kann, steuere ich Parallelen bei. Ich kenne keine Theaterschauspieler, habe keinen besten Freund, auch keinen Bruder mehr. Ich studiere nicht und weiß nicht, wie die Fritten in der Mensa schmecken. Aber vielleicht erzeugt mein Beipflichten etwas Vertraulichkeit, vielleicht kann ich jemand sein, der in ihrem Leben noch gefehlt hat. Ob ihr mein Song gefallen wird, ist mir inzwischen egal, zugegeben. Eigentlich, denke ich, habe ich das Stück nicht für dieses Mädchen geschrieben. Sondern an ihr entlang. Über sie hinweg.
    Als die beiden Krokantbecher kommen und Saskia sich über ihren beugt, stelle ich mir vor, sie am Schopf zu fassen. Ihren Pagenkopf in den Nacken zu ziehen. Ziellos, testweise. Ob ihr das gefiele, ist mir ebenfalls egal. Dass sie sich ein wenig winden könnte, gefällt mir sogar.
    Später sitzen wir auf der Ufermauer am Fluss. Unter uns wachsen Sumpfdotterblumen. Enten schnäbeln in den Binsen herum. Ich habe meine Schuhe ausgezogen. Die beiden Ballerinas sitzen, Schleifchen mir zugewandt, als warteten sie auf Streicheleinheiten, auf der Mauer. Saskia lutscht an dem Plastiklöffel, den sie aus dem Eiscafé mitgenommen hat. Im Gras liegt ein Filmdöschen. Saskia hebt es auf, aber zu ihrer Enttäuschung ist es leer. Sie hatte sich schon ausgemalt, die fremden Bilder entwickeln zu lassen und einen kleinen Voyeurblick in ein fremdes Leben zu werfen.
    »Meinst du, es wäre was Interessantes gewesen?«
    »Wahrscheinlich schon. Wer heute noch analog fotografiert, hat sich vermutlich Gedanken über seine Bilder gemacht.«
    »Mist«, sagt sie.
    Wir schließen eine Wette ab, wie viele Papiertaschentücher in die Filmdose passen. Saskia gewinnt. Sie lacht, fummelt die Taschentücher wieder aus dem Döschen und legt sie ordentlich zusammen. Schließlich steckt sie alles in ihre Handtasche.
    »Ich sollte noch ein paar Seiten fürs Seminar morgen lesen«, sagt sie.
    Ich packe meine Ballerinas in die Tasche und begleite Saskia zurück in ihr Viertel. Sie schleust mich durch Nebenstraßen und Hinterhöfe, zeigt mir einen kleinen Platz voller Platanen, auf dem ihr Lieblingsbrunnen steht und aus spitzen Mäulern grünes Wasser speit. Vielleicht will sie absichtlich noch ein wenig Zeit vertrödeln. Ich lasse mich treiben. Eine Kirchturmuhr schlägt vier. Durch die Portweinluft schweben großstadtmüde Insekten. Meine Sohlen sind längst schwarz vom Straßendreck. Die Mittagshitze steckt noch im Asphalt, brennt unter meinen Füßen.
    Ich ging immer gern barfuß, auch wenn es wehtat. Über Kieselwege, Stoppelfelder oder gefrorenen Boden. Mit dir ging ich barfuß durch den Schnee, falls du es noch weißt, Fender. Nach anderthalb Stunden waren unsere Füße wie betäubt, und ich glaubte, meine Sohlen müssten bluten. Aber sie hatten keinen einzigen Kratzer. Wir tauten im Schaumbad wieder auf. Falls du dich erinnerst.
    »Ich probiere das jetzt auch«, sagt Saskia plötzlich und streift ihre Sandalen ab. Ich muss wohl meine Füße angestarrt haben.
    »Ich mag das. So die Welt unter den Fußsohlen fühlen.«
    »Hätte nicht gedacht, dass das so heiß ist«, bemerkt sie.
    Ihre weißen Zehen tapsen über den Asphalt. Sie lacht, macht eine flatternde Bewegung mit beiden Händen und klemmt anschließend wieder ihr Haar hinter die Ohren. Sie sieht glücklich aus. An einer Buchhandlung beginnt sie, Bücherkisten und Regale zu durchstöbern, die der Besitzer im Freien aufgebaut hat. Sie gibt knappe Kommentare ab, während ihr Finger über die Buchrücken fliegt. Sie mag Reiseführer und Ratgeber und hasst Biografien. Dann nimmt sie fasziniert einen russischen Riesenwälzer in die Hand. Den wollte sie immer schon mal lesen. Das Seminar morgen scheint vergessen. Langsam wird mir klar, dass Saskia zum Zeitverschwenden wohl Gesellschaft braucht.
    Ich selbst bin selten in Buchhandlungen. Sollte ich mich überhaupt mal dorthin verirren, weiß ich nie, was ich will. Gut gemeinte Beratungsversuche wimmle ich so schnell wie möglich ab. Die Art, wie ich ein Buch aussuche, bewegt sich irgendwo zwischen Spurensuche, Wünschelrutengang und Balztanz. Da will ich nicht abgelenkt werden, will mich voll auf meine Instinkte verlassen. Dass das Cover eine entscheidende Rolle spielt,

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