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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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putze meine Zähne und krieche in die Federn.
    Die Bilder des vergangenen Abends entwickeln sich wie Polaroids in meine Schläfrigkeit hinein. Sortieren sich vor meinem inneren Auge. Ein Bild von Michas Silhouette vor dunkelroter Tapete. Ein Bild von dem Mann mit dem Abenteuerhut, der fähig war, meine Augen Mal um Mal wieder anzulocken. Ein Bild von meiner Gitarre im Rampenlicht, von meinen Fingern in den Saiten. Ein Bild des gebeugten Bassmannkopfs. Ein Bild der betrunkenen Dame, die nach unserem Auftritt den Bassmann küssen will. Ein Bild von Michas Grinsen, seinem Dreitagebart, spitzen Brauenbögen, ein teuflischer Zug. Ein Bild von den Frauen in der Bar, schönen Frauen, bei denen ich befürchte, sie mit meiner Anwesenheit zu belästigen. Ein Bild, wie diese Frauen an Gläsern nippen oder ihren Pony schwingen. Ein Bild von Micha, der einen Red Russian serviert. Schließlich Bilder von Bassmann und Barmann im Taxi. Wir saßen alle drei auf der Rückbank, ich spüre noch die warmen Flanken der Jungs. So eingeklemmt zwischen ihren Körpern hätte ich die ganze Nacht weiterfahren können.
    Ich will einschlafen und kann nicht. Entscheide mich schließlich für eine heiße Dusche, tappe in Richtung Bad. Mit welch blindem Vertrauen ich ins Dunkel greife. Nach meinen Sinnen zu urteilen, schwebt meine Hand im absoluten Nichts. Dann spüre ich den Türgriff, als wäre er immer da gewesen. Dabei bin ich es, die immer schon da war, und nicht der Türgriff, denke ich.
    Unterm heißen Wasser wird meine Haut rot, meine Glieder schlaff, mir schwindlig. Ich taumle aus der Duschzelle. Im beschlagenen Spiegel sehen meine Augen wie schwarze Tuscheflecken aus. Meine Parfumflasche glitzert divenhaft, wünscht mir gute Nacht.
    Zurück im Bett, höre ich einen Seufzer hinter der Wand. Eine Frau, ein Körper, klein und süß wie diese Seufzerstimme. Das Nachbarbett, auf dem sich dieser Körper räkelt, muss genau spiegelverkehrt zu meinem stehen. Im Halbschlaf, traumnah, sehe ich meine Nachbarin und mich Kopf an Kopf liegen. Ihr Seufzen ist ein so natürliches Geräusch, so dezent, so zart, als wäre gar kein Mann bei ihr.

Bitterblume
    Kleine, Miststück, Mondprinzessin, schreibst du. Ich vermisse dich, schreibst du, Künstlerkind. Meine Augen hängen am Bildschirm. Meine Fingerspitzen streichen über die Funktionstasten, über die Nähte meiner Jeans, können nicht still halten. Deine Nachricht sticht wie Stroh, wie Hafer. Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her.
    Schließlich springe ich vom Schreibtisch auf, einem einfachen weißen Holzgestell, und suche nach dem Probenraum, der uns gestern Nachmittag zugewiesen wurde. Das Frühstück habe ich bereits verpasst. Immer von acht bis neun versammeln sich die Künstler in der großen Scheune, kauen auf Vollkornbroten herum und köpfen ihre gekochten Eier. Sie schlafen in schmalen Betten, teilen Toiletten und Duschen. Als ich über den gepflasterten Hof gehe, werden in der großen Scheune gerade die letzten Tische gewischt, jemand schüttelt ein Geschirrtuch aus dem Fenster. Der Künstlerhof erinnert mich ans Schullandheim.
    Fünfeinhalb Stunden tüfteln der Bassmann und ich an neuen Songs. Ich bin fahrig, unkonzentriert, abwesend. Der Bassmann lässt mich nicht auskommen. Immer wieder holt er meinen Heliumkopf zurück auf den Boden. Erdet mein schlingerndes Fahrgestell. Verknotet meine losen Nervenenden mit den Gitarrensaiten. Er holt mich zurück, immer wieder, mit eiserner Konsequenz.
    Noch mal, sagt er, noch mal. Bleib unten mit der Stimme. Knie dich rein. Als ich zum ungefähr zehnten Mal meinen Einsatz verpasse, legt er seinen Bass weg. Eine Minute vergeht schweigend. Der Bassmann legt sich flach auf den Rücken und atmet. Ein. Aus. Ein. Aus.
    »Was ist eigentlich dein Problem?«, fragt er schließlich.
    Ich bin so überrumpelt, dass ich nicht antworten kann. Ich habe seine Stimme noch nie so rau und rüde gehört. Er klingt nicht nur wütend. Er klingt verletzt. Würde er nicht auf dem Boden liegen, hätte ich das Bedürfnis, hinter irgendwas in Deckung zu gehen.
    »Deine Performance klappt in letzter Zeit so richtig zusammen. Was du hier gerade ablieferst, ist erbärmlich. Ich weiß, ich weiß, ist nur eine Probe. Und du bist heute schlecht drauf. Okay. Aber in letzter Zeit kommst du ja nicht mal auf der Bühne in die Puschen.«
    Seine Hand fliegt auf. Öffnet sich hilflos in der Luft.
    »Das bist doch nicht du. Miss Perfektionswahn. Miss Hochkonzentriert. Miss

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