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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Schocksekunde, Augenwinkel, schon weitergerauscht. Ich muss fantasiert haben.
    Nach dreißig Minuten und einigen weiteren Zwischenhalten kommt die Bahn quietschend zum Stillstand. Endstation. Das Dorf liegt in der Abendsonne, die gerade beginnt, überm Horizont auszulaufen und ihr Eigelb über die Zuckerrübenfelder zu verschmieren.
    Ungeschriebene Briefe im Ärmel, Briefe an dich, bugsiere ich den grünen Drahtesel in Richtung Nacht. Aus meinen Kopfhörern wirbelt Musik der Zwanziger und Fünfziger. Wüsste ich nicht, dass es meine Hände sind, würde ich mich wundern, was für ein Paar kleiner, hübscher Tiere da mit dem Lenker spielt. Ich wippe im Sattel zur Musik. Ich lebe.
    In den folgenden drei Wochen versuche ich, beim Essen so oft wie möglich am selben Tisch wie Oliver zu sitzen. In seiner Nähe verliere ich seltener den Appetit. Er stellt mich den anderen Künstlern vor. Eine Fotografin möchte Bilder für eine Portraitserie mit mir machen. Der Bassmann freundet sich mit einem Jazzgitarristen an. Zwei Komponisten haben ein seltsames Gebräu in einer grünen Bügelflasche dabei. Auf dem Etikett steht etwas Handschriftliches, unleserlich. Oliver hält mir lachend die Flasche hin. Die Flüssigkeit riecht scharf, ein bisschen nach Minze, ein bisschen nach Diesel. Was immer es ist, ich trinke es einfach.

Hirschfänger
    Heute habe ich geweint. Ich saß draußen auf meiner Wolljacke in einer endlosen Wiese hinter den Backsteinscheunen. Weinte, weil die Raben Angst vor mir hatten. Sie umhüpften mich, krächzten und knarzten, aber keiner kam auf meine Wolljacke. Keiner kam zu meiner Hand.
    Ich will kein Mensch mehr sein. Ich will das Friedliche von einem Büffel am Wasser. So dass ein Rabe ganz ohne Scheu auf meinen Knien landet. An meinem Rocksaum nestelt. Den Lauten aus meinem Mund lauscht. Den Kopf ganz schräg macht vor lauter Lauschen. Den Bissen vor meinem Mund beäugt und vorsichtig den Schnabel danach reckt. Ich möchte verwandelt werden. Nicht so sehr. Nur gerade so viel, dass die Raben merken, dass ich kein Mensch mehr bin.
    Hier, an diesem Schullandheimfenster, kommt mich nur immer diese Elster besuchen. Meist noch morgens, bevor ich ans Waschbecken getrottet bin. Sie trippelt auf dem Fensterbrett, einmal nach links, einmal nach rechts. Sie schielt mich an, fliegt weg. Ich solle aufpassen mit den Elstern, sagte mir meine Großmutter als Kind. Die hätten es auf mein glänzendes Haar abgesehen. Wollten mich klauen. Natürlich führte mich meine Großmutter nur an der Nase herum. Aber beim schiefen Blick der Elster könnte ich tatsächlich glauben, dass sie es auf mich abgesehen hat. Nur wie sollte sie. Wenn sogar der große Rabe Angst vor mir hat.
    Ich vergrabe meine Hände in den Taschen. Ich will, dass ein Rabe auf meiner Schulter sitzt, ein Rabe oder ein Fink oder ein Sperling, denke ich, ein Regenpfeifer oder ein Kolibri. Völlig egal. Ich will umschwirrt werden. Nicht allein sein.
    Statt des Raben setzt sich eine Fliege auf meinen Arm. Betupft mich mit ihrem Rüssel. Bewegt sich ruckartig, schreibt fremdartige Buchstaben auf meine Haut. Ich öffne das Fenster und lotse sie in die Nacht hinaus. Ich wasche mein Gesicht, trinke Leitungswasser, gurgle. Anschließend verharre ich übers Waschbecken gebeugt. Meine Ruhe und mein Ebenmaß sind in Wirklichkeit eine Fläche siedend heißer und todeskalter Punkte. Meine stille Haut schreit nach Berührung. Ich richte mich auf, obwohl ich lieber umfallen würde. Lieber an deiner Brust liegen. Ich könnte dich anrufen. Ein kleines Mädchen in mir weint nach dir. Sie will Mondprinzessin sein. Ich könnte dich anrufen und Gefahr laufen zu stören. Moment, könntest du sagen, lass uns morgen reden. Nein, Mondprinzessin, stören möchten wir nicht.
    In nichts als ein Handtuch gehüllt, tappe ich durch den Korridor. Die Duschen sind nachts meist unbesucht.
    Immer wieder wringe ich das Wasser aus meinem Haar, als ließe sich so mein Kopf leerspülen. Als ließe sich die schmerzliche Schärfe der Bilder auflösen, Bilder von zärtlichen Raben, Schmetterlingsflügeln, Männerhänden. Die Sehnsucht läuft in breiten Streifen an der Duschkabine herunter.
    Ich trete zurück auf den Korridor. Schaum knistert zwischen meinen Zehen. Von irgendwoher dringt das Murmeln eines Radiogeräts. Aber statt meines Zimmers steuern meine Schritte die Treppe nach draußen an.
    Der Hof liegt im Dunkeln, keine Laternen. Die meisten Fenster sind ebenfalls dunkel. Nur in zweien oder dreien

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