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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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ist noch Licht. Alle Vorhänge sind zugezogen, außer meinen. Plötzlich stehe ich vor Olivers Fenster. Ich erkenne es an der schwarzen Rakuschale, die auf seinem Fensterbrett steht. Ich bemerke einen leichten Schimmer aus dem Vorhangspalt. Wohl wissend, wie kindisch es aussehen muss, klemme ich mir das Handtuch fester unter die Arme, stelle mich auf die Zehenspitzen. Durch den Spalt erkenne ich Olivers nackte Füße, weiter hinten seine Schultern, dazwischen Bettdecke. Er liest.
    Ich sinke zurück auf den Boden, fühle erst jetzt den spitzen Splitt unter meinen Sohlen. Ich starre auf meine lackierten Fußnägel. Sie lassen meine Füße wie Puppenfüße aussehen. Nicht weit von meinen Zehen wächst Mohn aus einer Bodenritze. Die Blüte ist schwarz. Sollte sie nicht rot sein, denke ich. Ein Nachtvogel ruft.
    Die Wolken reißen auf. Ein bauchiger Mond schifft ins Freie. Schwellmond, Hellmond, Volltrottel, denke ich. Was für ein dummes Kind ich bin. Noch einmal stelle ich mich auf die Zehenspitzen, beobachte Olivers gekämmten Hinterkopf. Die langsamen Bewegungen seiner Füße versetzen mich in Unruhe.
    Ich eile zurück in mein Zimmer. Grabe ein Blatt Papier und ein Federmäppchen aus meiner Reisetasche. Finde sogar meinen alten Füllfederhalter darin. Muss die Feder auswaschen, die ganz verkrustet ist, lange nicht benutzt wurde. Es dauert eine Weile, bis die Tinte wieder fließt. Ein Brief ist nie nur ein Brief, schreibe ich. Nie nur Worte, Worte, Worte. Unter meiner Hand tanzt die blaue Linie. Ich mag das Gefühl.
    Vielleicht riechst du den Rest Lavendelseife, schreibe ich, der beim Schreiben an meinen Fingern klebt. Vielleicht riechst du das Ledrige aus meiner Reisetasche. Vielleicht den Wachsgeruch. Hier riechen alle Zimmer nach Wachs, der Boden ist das. Und draußen, schreibe ich, riecht alles nach Birkenrinde. Du merkst wahrscheinlich auch, schreibe ich weiter, wie stark meine Schrift sich heute neigt. Sie fällt dir entgegen. Wärst du hier, würde ich dich durch den Kräutergarten führen, dir Pfefferminze pflücken, dir die Skulpturen zeigen, vor allem den sterbenden Hirsch, um den Oliver und ich oft herumstreunen. Oliver ist Halbamerikaner und Dichter. Hat eine kaputte Ehe, und fünf Bücher veröffentlicht. Keine Kinder.
    Heute habe ich geweint, schreibe ich. Beim Frühstück schlug ein Jazzgitarrist dem Bassmann vor, mit ihm nach Kiel zu ziehen, er habe ein sehr erfolgreiches Ensemble dort. Er könne noch einen Basser brauchen. Ich rannte hinaus. Heulte. Wenn der Bassmann geht. Dann ist es aus.
    Wärst du hier, schreibe ich. Hart anfassen müsste ich dich. Gegen die Wand werfen. Müsste hören, wie dein Schädel gegen das Balkenholz schlägt, um zu glauben, dass du wirklich da bist. Sei froh, schreibe ich, dass du nicht da bist.
    Eigentlich sollte ich schlafen, schreibe ich.
    Es ist Nacht, schreibe ich.
    Dann schreibe ich nichts mehr. Meine Gedanken schlingern. Bunte Bilder flirren über die innere Leinwand, Collagen, Filmschnipsel, deine blutig gebissene Lippe, mit Kolibris, mit Mehlstaub und Backsteinpulver unterlegt. Ein Priester tappt durchs Bild, und sogar die Dame mit dem Hermelin kommt vor. Sie lässt das Hermelin unter die Priesterkutte kriechen. Ich überlege, ob sie wirklich von da Vinci gemalt wurde. Ich sehe Absinthgläser, Brombeersaft, Möwen und Kormorane, ein Pudel im Spitzenkostüm trippelt vorbei. Durch den barocken Bilderwust erkenne ich kaum das schlichte Zimmer wieder. Irgendwo muss mein Bett stehen.
    Nur an der Gitarre klärt sich die Welt. Nur beim Spielen finde ich Prägnanz und Ordnung. Meine Songtexte schreiben sich wie von selbst. Aber sobald ich einen Stift in die Hand nehme, auch nur einen kleinen Fetzen meiner Geschichte aufschreiben möchte, verwirrt sich alle Ordnung.
    Kein Stift. Keine Tinte. Ein Messer vielleicht, denke ich. Meine Geschichte müsste ein Messer sein. Eine Klinge, die durch die Zeit sirrt, immer genau da, wo meine Gedanken sind, wo ich bin. Eine Klinge, die eine Form herauslöst, aus allem, denke ich. Diese Form könnte vielleicht als Beweis dienen, dass es mich gegeben hat. Diese Form könnte ich dir schicken. Statt eines sinnlosen Briefes. Ein Waldmesser, ein Hirschfänger, ich könnte Gefahr laufen, dass die Klinge stumpf ist. Oder dass ich abrutsche. Wenn am Schluss einer blutet, einer stirbt, ist es meine Schuld. Okay, denke ich, meine Geschichte, mein Risiko. Das Handtuch rutscht mir auf die Knie. Mir ist kalt.
    Ich werfe den Füller zurück ins

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