Schützenkönig
in wasserblaue Augen, die sie kannte.
In ihren Schläfen pochte ihr Puls wie eine Bongo-Trommel. Sie atmete tief durch. Da war er – der Mann aus dem Traum. Und wieder blickte er sie an. Mit seinen wasserblauen Augen. Die blonden Haare fielen ihm hübsch ins Gesicht, er grinste frech. Unter dem Foto die Jahreszahl und der Name: 1976, Seine Majestät Bernie I. Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Das konnte nicht sein!
»Frau Latell? Kommen Sie?«
Viktoria nahm die letzten Stufen. Harry stand schon vor ihrem Zimmer mit der Nummer 11 und sah besorgt aus.
»Sie sind ja ganz blass. Haben Sie gerade ein Gespenst gesehen?«
»Ja, irgendwie schon. Aber das war wohl eher ein Déjà-vu«, sagte sie und lächelte schief.
Harry nickte ernst und gab ihr den Schlüssel. »Dann schlafen Sie mal gut.« Als er durch den Flur davonschlurfte, schüttelte er den Kopf und murmelte leise: »Deschawas!? Seltsame Krankheit. Na ja, Großstädter eben.«
Viktoria mochte Harry.
3. Kapitel
Marios kanarienvogelgelber Barchetta parkte, oder besser, leuchtete, auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gasthaus. Rosa Kittelschürze hatte gar nicht so unrecht, das Auto sah schon ein bisschen nach Porsche aus. Sportlich, rundlich, ein Zweisitzer eben und ein echter Hingucker! Genau das richtige Auto also für Mario, der damit vor allem eines wollte – Frauen einsammeln. Und das mit möglichst wenig Aufwand. Sein Plan war simpel, aber erfolgreich: Autotür auf, Blondine rein, fertig! So hatte Viktoria schon so manch goldenes Haar vom Beifahrersitz gezupft.
Hier in Westbevern wirkte das Aufreißerauto allerdings etwas deplatziert. Einsam und verlassen stand es auf dem tristen Pflaster. Mario drückte den automatischen Öffner, als sich Hufgetrappel näherte. Kurz darauf fuhr eine kleine Ponykutsche vorbei. Sie war mit bunten Wimpeln und Birkenzweigen geschmückt. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann, hinter ihm lachten und winkten eine Handvoll Kinder. Viktoria rief mit übertrieben heller Stimme: »Guck mal, wie bei den Mädels vom Immenhof – süüüüüß.« Aus der anderen Richtung näherte sich ein großer grüner Trecker, der das liebliche Klockedicklock der kleinen Ponyhufen überdröhnte. Er fuhr bestimmt sechzig, seine riesigen Räder donnerten über den Asphalt und wühlten sich durch die große Pfütze, die sich am unbefestigten Parkplatzrand gebildet hatte. In wabbeligen Klumpen schoss der schwarze Matsch durch die Luft und landete mit einem nassen »Klatsch« auf dem knallgelben Lack des Fiat Barchetta.
»Von wegen süß! Scheiße!« Mario knallte wütend die Autotür zu, die er schon zum Einsteigen geöffnet hatte, und rannte Richtung Straße: »Du Bauer, du dämlicher Bauerntölpel – kannst du nicht aufpassen?« Doch der Bauerntölpel war längst außer Hörweite.
»Es tut mir leid, Mario, aber dein Auto sieht aus wie eine dieser beschissenen Tigerenten von Janosch.« Viktoria kicherte. Tigerenten waren ihr erklärtes Hassobjekt. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie sich sogar erwachsene Frauen die süßlichen Dinger aus Holz an ihre Rucksäcke hängen und das auch noch hübsch finden konnten. Getoppt wurde das nur noch vom Hype um den kleinen Prinzen. Irgendwann beschloss nämlich Viktorias gesamter Freundeskreis, alle Zitate aus dem Buch für alle möglichen Anlässe zu nutzen. So verfolgten sie die naiv-romantischen Sätze des Prinzen zu Hochzeiten, Taufen, runden Geburtstagen – kurz zu jenen Veranstaltungen, bei denen es vor Kitsch und Schleimerei ohnehin schon nur so triefte. Und wenn dann der Bräutigam zur Braut sagte: »Man sieht nur mit dem Herzen gut« – und alle heulten, dann hustete sie Bröckchen. Denn eigentlich – das konnte sie mit ihrem Herzen ganz deutlich sehen – liebten sie den Prinzen nur, weil der Autor so einen schwierig-schönen Namen hatte. Und wer fehlerfrei Antoine de Saint-Exupéry aussprechen konnte, wer diese Namenszeile in seinem Bücherregal stehen hatte, wer ihn in sein Hochzeitsalbum schrieb, der fühlte sich mindestens so gut, wie wenn er mit guten Freunden einen guten Rotwein von einem kleinen, aber sehr guten Winzer aus Frankreich trank. So französisch, so klug, so kreativ, so chic – voilà und merci, petit prince! Zum Heulen, diese Heuchelei.
Jetzt und hier konnte sie wenigstens lachen. Denn Marios gelbes Angeberauto sah durch die Matschschlieren wirklich genauso dämlich aus wie die Streifenente von Janosch. Mario war sauer über den Dreck und über
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