Schützenkönig
schaute zur Empfangssekretärin. Der Vollbart folgte seinem Blick, lächelte, und Viktoria wusste, die beiden Kaninchenzuchtverein-Experten würden den Stadtdeppen sicher helfen.
Anderthalb Stunden und fünf Tassen Kaffee später war der linierte Notizblock, den Mrs. Leggings Viktoria mit gönnerhaftem Lächeln gereicht hatte, voll.
Das Material der Kollegen hier war gar nicht mal so schlecht.
Viktoria hatte die Adresse, das Geburtsdatum und sogar die Haarfarbe von Elisabeth Upphoff – blond mit Strähnchen vom Friseur Scherenschnitt, har har. Sie wusste, dass sie in der Katholischen Frauengemeinschaft Schriftführerin war und ihr Mann im Männergesangsverein die Kasse führte. Sie wusste auch, welche Waffen Elisabeth sich an jenem Abend aus dem Jagdschrank ihres Mannes gegriffen hatte und dass die Bombenattrappe aus der Verkleidungskiste im Keller stammte. Ihre Ehe war seit dem Zwischenfall zerrüttet. Elisabeth habe sich in ihrem Haus verkrochen, der Mann wohne auch noch dort – wahrscheinlich im Gästezimmer, doch eine Stellungnahme hätte man gar nicht haben wollen, weil man hier in Telgte und Westbevern noch die Privatsphäre achte, so Glatze Gregor nicht ganz ohne Vorwurf im Ton. Dann legte er ein paar Seiten Schützenvereins-Material auf den Kopierer.
Viktoria zog ein Blatt aus dem Auswurffach und las laut vor. »Hör mal, Mario!«
Mario gähnte.
»Auszüge aus der Vereinschronik des Westbeverner Schützenverein e.V. von 1780: Das Schützenwesen geht bis zur Urzeit der Menschheit zurück. So wie jeder Jagdzauber und Fruchtbarkeitsmythen in jeder steinzeitlichen Höhle.«
Mario sah auf. »Ja, steinzeitlich, das passt.«
Sie las weiter, leise für sich. Und sie staunte. So viel Historie hatte sie nicht erwartet. »Ursprung der Schützenvereinigungen ist eine echte Not- und Wehrgemeinschaft, die sich aus dem Zwang des täglichen Lebenskampfs zusammenschloss. Feinde: unter anderem Großwild. Außerdem mussten die wehrfähigen Bewohner erfasst werden, bei den jährlichen Treffen, die dafür abgehalten wurden, kam es zu Opfergelagen, bei denen das sogenannte Gildebier getrunken wurde. Und bei denen seit dem 16. Jahrhundert vielerorts auf einen Vogel – damals lebte er noch – geschossen wurde.« Als im 18. Jahrhundert ein Berufsheer herangebildet wurde, brauchte man die Schützenbrüder nicht mehr. »Und so wandte man seine Aufmerksamkeit dem Schützengelage, also deftigem Trinken und Schmausen, zu.« Na, dann Prost und genug Geschichte. Viktoria wollte ja wissen, was es heute mit dem Fest auf sich hatte. Warum drehte eine Frau durch, weil sie nicht Königin der Trink- und Schießgesellschaft werden durfte?
»Ich will jetzt mal die Emanze raushängen lassen«, sagte sie zu ihren Kollegen vom Lokalblatt. »Warum darf denn bei diesem ganzen Königsding keine Frau mitschießen? Das lese ich hier nicht. Und warum haben die Brüder diese Elisabeth nicht einfach gelassen, vielleicht hätte sie ja gar nicht getroffen. So eine tolle Schützin scheint sie ja gar nicht zu sein – wie ihr Pseudoamoklauf ja offensichtlich gezeigt hat.«
Vollbart Alex schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Das Königsschießen ist schon immer Kernstück und ältester Bestandteil des Schützenbrauchtums. Die Kirche mischt da sogar mit. Erst wenn der Pfarrer seinen Segen und der alte König einen Schuss abgegeben hat, geht es los. Es ist also extrem wichtig – und heilig.«
»Und weil es wichtig und heilig ist, dürfen Frauen nicht auf Spielzeugadler ballern, oder was?« Viktorias Stimme wurde etwas schrill.
Mario rieb sich die Ohren. »Ruhig, ruhig – oder läufst du auch gleich Amok?«
Gregor redete weiter: »Was heißt schon: dürfen nicht? Das ist ja das Problem. Es gab im Münsterland vor hundertfünfzig Jahren vereinzelt Königinnen, aber im traditionsbewussten Westbevern waren Schützenfeste immer schon reine Männersache. Die Herren haben nur eben nicht daran gedacht, es in ihre Satzung aufzunehmen.« Alex nickte: »Bei ihren Kollegen von der Antoniusbruderschaft in Coesfeld steht’s drin – und alle müssen sich dran halten.«
»Was«, fragte Viktoria in leicht säuerlichem Ton, »steht da drin? ›Frauen müssen draußen bleiben‹!?«
»Nö.« Glatzkopf grinste: »De Huesfrowen to Huse to laoten.«
Vollbart wollte helfen und übersetzte: »Die Hausfrauen zu Hause lassen.«
Viktoria nickte eisig, ohne brav zu lächeln. »Und Frau Upphoff hat das wohl nicht mehr gepasst mit dem Zuhausebleiben.
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