Schützenkönig
auferstanden. Nico drückte die Repeat-Taste. Er hörte ihr Kichern aus den Lautsprechern. Dann die Gitarre. Dann ihre Stimme.
»Heute ist die Welt verdreht, unten ist oben, wer läuft, der geht. Wer schreit, der flüstert leise, komm mit auf meine Reise. Sie führt mich weit und bringt mich heim, ich wachse daran und werde klein. Will immer bei dir sein. Dein schwarzes Engelein …«
Nicos Mutter wartete, bis es wieder still in seinem Zimmer war. »Essen ist fertig!«, rief sie dann. Sie wusste, dass er nichts anrühren würde. Nico drückte wieder auf die Starttaste.
5. Kapitel
»Sag mal«, sagte Viktoria. »Dieser Harry vom Gasthaus König, der ist in Ordnung, finde ich.«
Kai sah sie fragend an. »Ja?«
»Aber seine Frau, mal ehrlich, die ist ja furchtbar.«
»Du meinst Plaudertasche Rosa?«
Viktoria konnte es nicht glauben. »Die heißt jetzt nicht wirklich Rosa, oder? Mario, also der Fotograf und ich, wir haben sie immer so genannt, weil sie … Na, egal. Auf jeden Fall heißt sie jetzt wirklich Rosa?«
»Ich glaube nicht. Wir nennen sie aber alle so. Weil sie immer diesen furchtbaren rosa Kittel anhat.«
»Ach so«, sie merkte, wie sie langsam rot wurde.
»Oder dachtest du, wir finden hier rosa Blumenkittelschürzen aus den Fünfzigerjahren normal?«
Viktoria war ertappt und hustete. Zum Glück kam gerade die Bedienungsfrau, um zu fragen, ob sie noch etwas wollten. Viktoria bestellte eine Apfelschorle. Es war immer noch sehr warm, keine Wolke ließ sich am blauen Himmel blicken. Das Ehepaar samt Rädern war inzwischen verschwunden, die Mütter mit den Kindern zahlten gerade.
»Musst du nicht wieder zur Arbeit?«, fragte Viktoria.
Kai schüttelte den Kopf und steckte sich noch eine Zigarette an. Komischer Installateur, dachte sie. Still schaute Kai ihr zu, wie sie ihr Glas leerte. Er blinzelte in die Sonne und kramte dann in seiner Tasche. Er strich einen zerknüllten Zwanzigeuroschein glatt, legte ihn auf den Tisch und stand langsam auf. Er ging auf Viktoria zu, schaute sie wieder direkt an, reichte ihr die Hand und sagte die dämlichste aller Abschiedsfloskeln: »Man sieht sich.«
Dann ging er.
Viktoria schaute ihm nach. Er fuhr sich mit seiner Linken durch seine blonden Haare und drehte sich nicht mehr um. Viktoria dachte: Coole Turnschuhe.
Sie blieb noch zwei Minuten sitzen. Dann schlenderte sie zur Kneipe am Markt, in die Mario verschwunden war. Sie hieß sinnigerweise »Am Markt«, und als sie die Tür aufstieß, sah sie erst einmal gar nichts. Ihre Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Dann erkannte sie Mario. Er saß mit drei Männern an einem Tisch, vor jedem stand ein großes Weizenbierglas – halb gefüllt – und ein Knobelbecher aus Leder. Als Mario Viktoria erblickte, strahlte er übers ganze Gesicht. »Hey, Victory, wir schocken gerade. Geiles Spiel!«
»Geile Braut«, lallte der junge Kerl neben Mario und zeigte mit dem Glas in der Hand auf Viktoria. Die anderen lachten.
»Geile Begrüßung«, antwortete sie kalt und setzte ihren fiesesten Blick auf. Mario nahm keine Notiz davon. Er strahlte immer noch. »Victory, das hier ist Ludger«, er deutete auf den geilen Begrüßer, der höchstens fünfundzwanzig war und ziemlich scheel grinste. »Das ist Alfred.« Der graue Mann neben Mario lächelte freundlich und nickte zur Begrüßung. »Und hier würfelt gerade King Lui.«
»Geiler Spitzname«, sagte Viktoria ironisch.
»Mann, Victory«, Mario redete mit ihr, als sei sie betrunken und nicht er. »King Lui ist echt eine Majestät. Der war mal Schützenkönig.«
»Nicht ›war mal‹«, sagte King Lui. »Ich bin es noch, zumindest bis übermorgen. Im letzten Jahr hab ich den Vogel abgeschossen.«
»O ja, da haste Ferdinand ganz schön bloßgestellt«, schaltete sich Alfred ein.
Ferdinand, Ferdinand? Viktorias Hirn arbeitete. Woher kannte sie den Namen? Na klar. Der Mann von Elisabeth Amok-Upphoff hieß Ferdinand.
So langsam wurde die Sache wirklich geil. Sie setzte ein freundlicheres Gesicht auf und schob sich auf den Bankplatz neben Mario. Sie lächelte King Lui an. »Wieso haben Sie Ferdinand bloßgestellt? Wollte der auch König werden?«
»Und wie. Eigentlich will der das schon immer. Aber letztes Jahr hatte er es wohl richtig vor. Hatte extra Geld gespart, neue Uniform gekauft, ’n Kleidchen für die Frau und so weiter. Aber der Dummkopf hatte es niemandem gesagt. Wir wussten nix davon. Und so dachte ich – wie alle anderen im Verein auch –, ich
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