Schützenkönig
ungewöhnlich, dass Berlinerinnen mit knallpinken Pullis hier rumlaufen. Ich frage mich, was du hier machst? Doch wohl keinen Urlaub, oder?« Oh, er ist clever, dachte sie. Der Cowboy hat ’nen Schulabschluss!
Sie erzählte ihm – etwas geschönt –, warum sie da war. Es klang richtig seriös. Besonders wichtig seien ihr die Beweggründe der Amokläuferin und natürlich die Historie des Schützenfestes von Westbevern. Es soll in ihrer Reportage um Traditionen auf dem Lande gehen und um das Schicksal einer braven Hausfrau, erklärte sie. Wie sich ihr Chef die Geschichte wirklich vorstellte und wie sie sie schreiben würde, sagte sie nicht.
Kai nickte interessiert. »Tja, ich hätte ja eher gedacht, du machst so einen witzig-ironischen Artikel über die etwas dämlichen Leute vom Lande«, sagte er und blinzelte ihr zu.
»Ich finde euch nicht dämlich«, verteidigte sich Viktoria. »Ich kann nur nicht recht verstehen, was an einem Schützenfest so besonders ist, dass eine brave Hausfrau sogar zur Selbstmordattentäterin wird.«
»Na, na – sie hat doch niemandem etwas getan.«
»Schon klar. Aber sie hätte ein Blutbad anrichten können – und das alles nur, weil sie nicht Schützenkönigin werden durfte.«
Kai lächelte, räusperte sich dann. »Als ich klein war, habe ich tagelang nach dem perfekten Ast gesucht.«
»Aha«, sagte Viktoria und schaute ratlos drein.
»Er musste lang genug und fest genug und gerade genug sein, damit er aussah wie ein Gewehr.«
»Aha.« Viktoria lächelte.
»Es gab nichts Aufregenderes für uns, als den Stock zu schultern und mit den Großen mitzumarschieren.«
»Und ich dachte, Kinder auf dem Lande sind friedfertig.«
Kai grinste. »Sind wir ja auch, wenn wir mitmarschieren dürfen. Aber im Ernst. Schützenfest, das ist hier Kindheit, Erwachsenwerden, Tradition. Und für viele ist es wohl das halbe Leben. Es gibt hier einen Typen, der in seinem Leben nur Mist erlebt hat. Traurige Kindheit mit einem versoffenen Vater, keine Frau, keine Freunde. Der arbeitet jeden Tag auf seinem Hof – und das war’s. Aber vor ein paar Jahren war er Schützenkönig. Sein Foto stand in der Zeitung, sein Name. Die Frauen haben mit ihm getanzt, die Männer haben mit ihm getrunken. Der zehrt immer noch davon.«
Viktoria schüttelte den Kopf. »Das Schützenfest als soziales Netz oder wie?«
Kai nickte. »Irgendwie schon.«
Viktoria schaute immer noch skeptisch. »Und, hast du deine Uniform denn schon gebügelt?« Sie wollte ihn ärgern.
Kai blieb ruhig. »Nö«, sagte er. »Ich hab damit nix am Hut.«
»Hast du mal von einem Schützenkönig gehört, der Bernie heißt?« Viktoria tat so, als sei ihr die Frage ganz spontan eingefallen und die Antwort halb so wichtig.
»Wieso?«
»Nur so.«
»Ne, hab ich nicht.«
»Mmmh.«
Dann kam sein Essen. Ein Jägerschnitzel mit Pommes. Viktoria lief das Wasser im Mund zusammen. »Bist du sicher, dass du nichts willst?«, fragte er und zerschnitt sein Schnitzel.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich will. Aber ich will auch nicht dicker werden.«
»O ja klar, stimmt. Als Frau muss man da ja immer so ungemein aufpassen. Und du vor allen Dingen.«
Er drehte den Teller so, dass die Pommes vor ihr standen, schob ihn weiter in ihre Richtung und bestellte eine zweite Gabel. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, fragte nicht, ob es hier auch Sushi gäbe, und aß brav und mit großem Appetit die fettigen Pommes.
Nico hatte es dreieinhalb Minuten lang vergessen. Drei Minuten und dreißig Sekunden Gnade wurden ihm gewährt. Dann war ihr Lied vorbei. Sarahs Lied. Sie hatte es ihm geschenkt, zu seinem achtzehnten Geburtstag. Ihm war es peinlich gewesen. Sie hatte selbst gesungen, hatte selber Gitarre gespielt, alles auf CD gebrannt – und auf seiner Party abgespielt. Er war froh, als es vorbei war. Nico mochte es nicht, wenn er rot wurde, und er mochte es nicht, wenn seine Freunde ihn komisch angrinsten. Sarah wollte so klingen wie die Sängerin von Silbermond, doch das war ihr nicht gelungen. Ihre Stimme war sehr leise, und der Text war irgendwie kitschig, fand Nico. Damals. Was war er doch für ein Arschloch gewesen. Er hätte in die Knie gehen sollen vor Dankbarkeit über so ein Geschenk. Er hätte sie vor allen Freunden umarmen sollen, er hätte mitsingen sollen, weinen, tanzen. Jetzt sang er mit ihr, dreieinhalb Minuten lang. Er im Duett mit Sarah. Sarah, die jetzt schon sieben Monate lang tot war. Erschlagen, vergraben und nicht wieder
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