Schützenkönig
eigentlich sicher, dass Bernhard noch lebt?«
»Sicher? Was ist schon sicher? Er hat sich ja nie wieder gemeldet. Dreißig Jahre lang kein Wort. Aber das passt zu ihm.«
»Sie mochten ihn wohl nicht besonders?«
Alfred schüttelte heftig den Kopf. »Doch, natürlich mochte ich ihn. Jeder mochte ihn.«
»Aber warum?« Viktoria ließ nicht locker. »Er flirtete mit den Frauen anderer Männer, er verschwand einfach, ohne sich zu verabschieden …«
Alfred schaute sie voll Nachsicht an. »Ja, aber Kleines. Sie haben nur sein Foto gesehen und verwickeln betrunkene alte Männer in Gespräche, um mehr von ihm zu erfahren. Muss ich Ihnen das wirklich noch erklären? Er hatte diese Wirkung – auf alle. Sogar auf Sie.«
Darauf hatte Viktoria nichts mehr zu erwidern.
Mario wankte heran und zerrte an seiner Jacke, die am Kleiderständer hing. Als er sie endlich hatte, hielt er sie fest vor seinem Bauch und lallte: »Fährst du, Victory?«
Viktoria hatte gerade in den dritten Gang geschaltet, als sie auf die Bremse trat. Mario stöhnte auf, sank aber sofort wieder in seinen Sitz zurück. »Ich muss noch was erledigen«, sagte sie. Mario nickte mit halb geschlossenen Augen.
Die Türen des grauen Betonklotzes öffneten sich automatisch und so schnell, dass Viktoria beinahe mit ihrer Stirn gegen den Rathaus-Schriftzug geknallt wäre. »Mann!« – Viktoria sprang zur Seite und schüttelte genervt den Kopf. Drinnen war alles in einem typischen Siebzigerjahreton gehalten: braun, beige und grün. Vielleicht kann ich mir ja Marios Nachtsichtgerät leihen, dachte sie und versuchte, im Halbdunkel des düsteren Innenraums Hinweisschilder zu finden. Das Meldeamt lag gleich neben der Kamikaze-Eingangstür. Ich bin im Paradies, dachte Viktoria, als sie eintrat. Hier arbeiteten drei Mitarbeiter an geräumigen Schreibtischen, und vor ihnen saß jeweils ein Bürger. Das entsprach einer glatten Eins-zu-eins-Betreuung. In Berlin lag das Verhältnis eher bei eins zu hundertfünfzig. Als Viktoria in ihre Kreuzberger Wohnung zog, brauchte sie drei Tage und Anläufe, um sich ordnungsgemäß anzumelden. Beim ersten Versuch hatte sie bereits anderthalb Stunden mit ihrer Wartemarke im Flur gesessen, dann musste sie zur Arbeit. Beim zweiten Mal zog sie die Nummer sechshunderteinundfünfzig. Als sie auf der Aufruftafel sah, dass die Dreihundertzwei blinkte, verschwand sie. Beim nächsten Mal opferte sie ihren freien Tag und versetzte sich in eine Art Trancezustand. Nur so überstand sie die Wartezeit und die anschließende Ruppigkeit der Behördenmitarbeiterin.
Jetzt stand sie also inmitten der Service-Oase und wartete genau fünfeinhalb Sekunden, bevor sie mit einem netten »Wie kann ich Ihnen helfen?« an die Reihe kam. Viktoria verfluchte zum x-ten Mal ihre Chaostasche und kramte nach dem Portemonnaie. Dabei lächelte sie die junge Frau vor sich an und zählte deren Piercings im Gesicht. Sie musste zugeben, dass sie hier nicht mit einer durchlöcherten Zunge gerechnet hatte. »Guten Tag, ich bin Viktoria Latell«, sagte Viktoria. Endlich fand sie das Portemonnaie, öffnete es und zog ihren Presseausweis aus einem der Lederschlitze. Mindestens fünf Kundenkarten mit Stempelfeldern oder Punktesammelfunktionen fielen gleich mit heraus.
Piercing-Lady lächelte geduldig und blickte kurz auf den Ausweis. »Ja?«
»Ich brauche eine Auskunft über einen Bürger von Westbevern«, sagte Viktoria und klang dabei sehr geschäftsmäßig. »Er heißt Bernhard Lütkehaus.«
»Ja?«
Sie hatte Ja gesagt, also dürfte es nicht schwer sein, herauszufinden, was sie herausfinden wollte.
»Ist Bernhard Lütkehaus vor dreißig Jahren nach Australien ausgewandert?«
»Ja.«
»Ja?« Viktoria konnte es kaum glauben.
»Nein.«
»Na, was denn nun?«
»Ja, also. Ich weiß nicht. Ich kann Ihnen das nicht einfach so sagen. Haben Sie denn das Geburtsdatum und den Geburtsort?«
Viktoria schüttelte den Kopf.
»Ja, dann also nein.«
»Wie, nein?«
»Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen. Tut mir leid.«
»Ich bin Journalistin – ich habe ein Recht auf Information.«
»Ja.«
»Hören Sie doch mal auf, jeden Satz mit Ja anzufangen.«
Das Piercing-Mädel schwieg und blickte hilfesuchend zu einer älteren Kollegin am Schreibtisch neben ihr. Doch die wollte sich offensichtlich nicht mit dem Problem beschäftigen und sortierte ihre Schubladen. Viktoria ließ nicht locker.
»Ich weiß ja, dass es Vorschriften gibt. Ich will auch wirklich nicht viel wissen.
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