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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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absetzen, um noch etwas zu erkennen. Da stand das Kreuz, das Harry beschrieben hatte. Es war aus dunkelbraunem Holz, darüber ein kleines Dach, darunter die Inschrift I.N.R.I. Die Jesusfigur war aus hellem Sandstein gemeißelt. Jesus war groß, mindestens so groß wie sie selbst. Er blickte mit halb geöffneten Augen auf sie herab, unendlich müde und traurig sah er aus.
    Viktoria ging auf ihn zu.
    Die Margeriten, die vor dem Sockel in einem Einmachglas mit Wasser standen, dufteten, einige waren schon braun.
    Viktoria hob langsam eine Hand und berührte ganz vorsichtig den großen Zeh seines linken Fußes. Sie wusste, dass sie ein kleines Loch darunter fühlen würde.
    Das Hundegebell war plötzlich ganz nah.
    Es hallte aus dem Zwinger vor dem Haus von Martha Lütkehaus. Ein schwarzer Rottweiler rannte wie von Sinnen im Kreis, kläffte, knurrte und zeigte große, gelbe Zähne.
    Schöner Empfang, dachte Viktoria und stellte sich aufrecht hin, nahm die Schultern nach hinten, streckte die Brust raus und war auf einmal mindestens zehn Zentimeter größer.
    »Hey, bei uns laufen Viecher wie du auf Spielplätzen rum, du Töle!« Bloß keine Angst zeigen, dachte sie. So hatte sie es schon als Kind im Kampfhunde-Berlin lernen müssen. Und sie hatte es gehasst. Denn aus Angst, Angst zu zeigen, hatte sie mehr Angst vor der Angst als vor den Hunden selbst. So wie jetzt.
    Mit feuchter Stirn ging sie zügig und dominant auf den Hund von Baskerville zu und fürchtete, dass er den feinen Schweißfilm wittern würde. Bloß cool bleiben, Viktoria! Immerhin war er gefangen und die Gitterstäbe sahen zwar rostig, aber kräftig genug aus. Ohne den wilden Wachhund anzuschauen, ging sie an ihm vorbei.
    Das Bellen wurde lauter, die kreisenden Umdrehungen rasend schnell. Aber sie schaffte es und stand schließlich vor der Eingangstür des Hauses.
    Links verliefen die Bahngleise auf einem aufgeschütteten Wall, am Ende des Grundstücks stand ein Baum. Knorrig und verwachsen. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.
    Hatte der Baum in ihrem Traum so ausgesehen? Eine Eiche? Schwer zu sagen, es hing kein Blatt mehr an den Zweigen. Und das im Hochsommer! Gruselig. Fehlte nur noch, dass gleich ein paar Krähen angeflogen kommen, dachte sie. Da hörte sie das Gurren von Tauben und zuckte zusammen.
    Was war denn auf einmal los mit ihr? Nur weil sie einen Traum gehabt hatte, musste sie doch nicht gleich durchdrehen!
    Doch es half nichts, sie musste sich eingestehen, dass ihr der kahle Baum dort drüben sehr, sehr bekannt vorkam. Und wenn sie sich selbst und ihrer Erinnerung trauen konnte – und das konnte sie bisher immer –, hatte sie gesehen, dass genau an diesem Baum ein leichenblasser Mann gehangen hatte, der aussah wie der Mann, der einmal hier gewohnt hatte.
    Psycho, dachte sie. Hat das Jenseits mit mir Kontakt aufgenommen? Hat ein Untoter mich gerufen? Bei der Vorstellung von ihr als Geisterseherin musste sie schon fast wieder lächeln. Viktoria und Übersinnliches – das passte noch mieser zusammen als Rosinen und Müsli. Viktoria stand einfach nicht auf Fantasy. Harry Potter war was für Kinder, Akte X interessierte sie nicht, und Der Herr der Ringe fand sie total überbewertet. Andere mochten es ja fantasievoll finden, wenn irgendwelche Geister, Monster, Ringe, Elfen oder Zauberer in ewige Gut-gegen-böse-Kämpfe verstrickt wurden – sie fand das immer nur unlogisch, unrealistisch und extrem uncool.
    Doch im Moment war das Uncoolste weit und breit sie selbst. Der Schweißfilm klebte immer noch an ihrer Stirn und lockte blutgierige Stechmücken an.
    Vielleicht bin ich ja einfach bescheuert geworden, Lady Gaga, bekloppt. Burn-out-Syndrom, dachte sie und empfand diese Erklärung fast als Trost. Sie atmete ruhiger. So, jetzt mal wieder sachlich, Victory, dachte sie, setzte ihren Profi-Reporter-Scanner-Blick auf und notierte in ein imaginäres Notizbuch, was sie sah.
    Die Holztür, vor der sie stand, war alt. An einigen Stellen splitterte die Farbe ab, Wurmlöcher durchsiebten den Rahmen. Wo war eigentlich die Klingel? Das Gebäude war in einem ähnlichen Zustand wie die Tür. Die Ziegel waren mit Moos überzogen, die Fenster alles andere als frisch gestrichen und winddicht, die Dachpfannen krallten sich verzweifelt aneinander.
    Vorwärts, dachte sie. Es gibt keine Zombies!
    Sie klopfte. Einmal. Doch nichts rührte sich. Das Gekläffe des Hundes setzte aus. Sie klopfte lauter. Dreimal. Sie rief: »Hallo! Frau Lütkehaus, sind

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