Schützenkönig
Sie trug einen apricotfarbenen Rock, eng geschnitten und gerade kurz genug, dass man ihre Knie ein bisschen sehen konnte. Ihre Haare dufteten noch nach Friseur, ihre blonden Strähnchen lagen wohlgeordnet im geföhnten halblangen Haar, das ihr sanft auf die schmalen Schultern fiel. Leichtes Make-up bedeckte ihre Fältchen, ein Hauch von Rosa schimmerte auf ihren Lippen. Sie hatte gut aussehen wollen. Vielleicht würde Ferdinand dann wieder mit ihr reden, hatte sie gehofft. Doch er hatte weggeschaut. Als wäre sie Luft. Ach, weniger noch als Luft. Denn Luft braucht man zum Atmen. Ferdinand brauchte sie nicht. Sie drehte sich um, wollte nur nach Hause. Staub saugen werde ich, dachte sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Der Parkplatz, eine frisch gemähte Wiese, duftete wie das Meerschweinchen-Trockenheu einer Zoohandlung. Es waren viele Plätze frei, die meisten Leute waren zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Ein Festzelt stand direkt vor einem kleinen Wäldchen, es war fast so groß wie ein Fußballplatz. Als sie und Mario ausstiegen, blickten sie in viele neugierige Augenpaare. Kackauto, dachte sie. Es fällt wirklich auf, so knallgelb, wie es ist.
Obwohl es schon sechs Uhr am Nachmittag war, war es immer noch heiß, aus dem Zeltinnern drang eine Männerstimme, die so klang wie die eines Losverkäufers auf dem Deutsch-Französischen Volksfest.
Mario tauchte seinen Kopf in den kleinen Kofferraum, der eher den Namen Zigarrenkiste verdient hätte. Er kramte in seiner Fototasche, entschied sich dann für seine Nikon, ein Stativ und die passenden Objektive. Sie hatten sich geeinigt, dass er viele Porträts im Retrostil machen sollte. Das war gerade total angesagt. Ernst schauende Menschen in scheußlichen Klamotten vor kitschigen Sonnenuntergangstapeten messerscharf und optimal ausgeleuchtet aufs Bild gebannt. Retro war stylish, trashig war in. Genug Trash würde Mario hier finden, dachte Viktoria, als drei pummelige Mädchen in hellblauen Miniröcken und dunkelblauen Uniformjacken schwatzend und mit Eis in der Hand vorbeistapften. Später sah sie sie wieder, sie spielten im Musikzug Glockenspiel, Posaune und Schlagzeug – und ihre Gesichter waren ganz rot vor Freude. In Berlin existierten Dicke nur in der U-Bahn, beim Kaufhof am Alex oder am Wannsee – da versteckten sie sich in der Masse, in der Hektik des hellen Alltags. Nachts, in den Clubs, in den Kneipen, in den Kinos, ja sogar auf den Straßen – da sah man sie nie. Wahrscheinlich ist es bei den Berliner Übergewichtigen wie mit Vampiren. Nur umgekehrt. Die Moppeligen zerfallen im Dunkel der Nacht einfach zu Staub.
Mario hatte die Mädchen auch entdeckt und blinzelte Viktoria zu. »Hey, ihr drei. Bleibt doch mal stehen …« Ein Kicheranfall war die Folge, doch Mario blieb ruhig und machte seinen Job. Er postierte die Teenager, sie mochten um die vierzehn sein, genau vor dem Zelt. Als er im Sucher die knackigen Schenkel und die freundlichen Gesichter der Mädchen scharf gestellt hatte, wankte ein sechzigjähriger Uniformträger vorbei und guckte den Mädels auf den Po; Mario drückte ab. Viktoria würde später mit den Teenies sprechen, um ihre Namen aufzuschreiben. Jetzt hatte sie noch keine Lust auf pubertierende Kichererbsen.
Wegen der Hitze waren die Planen an den Eingängen des Festzeltes hochgeschlagen, Viktoria trat ein. Auf dem Fußboden lagen einfache Holzdielen, links befand sich eine Bühne mit Mikrofon und Musikanlage. Hinten rechts war eine Theke, bestimmt zwanzig Meter lang, und im ganzen Innenraum standen einfache Biertische mit einfachen Holzstühlen daran. Viele Plätze waren leer, das Kuchenbüfett, das gleich am Eingang platziert war, sah schon recht geplündert aus. Keine Torte, die mehr ganz war. Viktoria musste an die Tortendiagramme in den ARD-Wahlsendungen denken. An diesen Kuchenresten konnte sie genau erkennen, dass fünfundneunzig Prozent der Westbeverner Senioren Schwarzwälder Kirschtorte bevorzugten – es lag nur noch ein Stückchen auf dem runden Spitzenpapier –, der Rhabarberkuchen hatte nur so eben die Fünfprozenthürde geschafft.
Viktoria speicherte jedes Detail, das ihre Reportage nachher ein bisschen bunter und lebendiger machen konnte. Jetzt war Zeit, zu arbeiten. Sie griff sich eine Papierserviette und kritzelte alles auf, was sie sah. Links die Bühne, etwa zwölf Schritte lang, der Mann hinter dem Mikrofon etwa ein Meter achtzig groß, schwarze Hose, grüne Uniformjacke, eine goldene Nadel
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