Schützenkönig
heute noch.
Zurzeit küsste Joachim den schönen Schmollmund. Aber nicht mehr lange, das wusste Viktoria. Die ersten Anzeichen waren schon wieder erkennbar. Nicht für Joachim, aber für sie. Sie hatte es zu oft miterlebt.
Erst schien ihre Mutter den Männern unerreichbar. So perfekt war sie. Sie war schön und schien klug. Sie wetterte über den deutschen Afghanistaneinsatz, sprach über Steuersenkungen und Solidaritätspakte, als habe sie Politologie studiert. Sie mimte die Selbstständige, die Powerfrau, die Intelligente.
Sie, die großartige Marie Latell, hatte ihre Ziele steht’s nur durch Können, durch sich selbst erreicht, dachten die Männer. Dass das alles nur Fassade war, dass sie ihre Ziele immer nur durch die Hilfe von anderen – vor allem Männern – erreicht hatte, die sie vorher mit den viel zu knappen Röcken und zu großen Ausschnitten um den Finger gewickelt hatte, das sah keiner. Wie auch? Sie starrten alle auf ihre zarten Beine und ihre festen Brüste, während sie fasziniert ihren flachen Frauen-Power-Floskeln lauschten, die aus diesem unglaublichen Kirschmund irgendwie sexy klangen.
Wenn sie sie dann hatten, diese süße und kluge Frau, war es auch schnell wieder vorbei. Denn irgendwann merkte auch der Blödeste, dass ihre politischen Sprüche und ihr Emanzen-Getue nur Schall und Rauch waren. Sie war ein Frauchen. Ihr Äußeres war ihr am wichtigsten.
Sie brauchte Stunden im Bad, um am Ende so auszusehen, als sei sie eine dieser Naturschönheiten, die gar keine Kosmetik nötig haben. Sie gab Unmengen an Geld für den richtigen Rock, den richtigen Ausschnitt, die richtige Nagellackfarbe aus. Am Ende sah sie zwar nicht aus wie eine dieser Hochglanz-Tussis – dafür war sie zu geschickt –, aber wie ein bildhübsches Hippiemädchen. Doch ihre Sprüche über die Umverteilung des Kapitals und die Übermacht der Amerikaner wirkten schon nicht mehr so überzeugend, wenn die Männer gerade ihr halbes Monatsgehalt für eine Anti-Falten-Creme von Elizabeth Arden ausgegeben hatten, ohne die sie »unmöglich das Wochenende überstehen« konnte. Wo war da die intelligente, unabhängige Marie?
Wenn die Männer begannen, sie kritischer zu sehen, wurde sie unsicher und begann das zu tun, was jeden Mann vertreibt. Sie klammerte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hing an den Typen, als wären sie Gasballons, die in den unendlichen Himmel aufstiegen, wenn sie sie nur für einen Moment loslassen würde. Alles an ihr, ihr Mund, ihre Körperhaltung, ihr Augenaufschlag schrie in dieser Klammerphase geradezu: »Bitte hab mich lieb!« Ihrer Tochter war es peinlich – und den Männern wohl auch. Sie riefen seltener an, hatten häufiger schon was vor, hörten ihren Phrasen nicht mehr zu.
An diesem Punkt folgte die hysterische Phase. Viktorias Mutter machte ihnen Vorwürfe und wurde ungerecht. Die Männer waren zuerst verwirrt, dann ratlos und am Ende weg. Dann ging der Kreislauf wieder von vorn los: Denn ganz plötzlich – das Aftershave des verschwundenen Mannes hing noch in der Luft – wurde Power-Marie wiedergeboren. »Scheißmänner! Chauvinisten, Machos, Arschlöcher«, fluchte sie und sah dabei wieder wunderschön aus.
Viktoria kannte die Sprüche zur Genüge. Auch wenn sie sie nicht glauben wollte, so hatten sie sich doch in ihr Mädchenhirn gebrannt. Und als ob ihr Hirn es nicht ertragen hätte, eine Lüge eingebrannt bekommen zu haben, machte sie sie zur Wahrheit. Und suchte sie ganz gezielt aus: die Chauvinisten, Machos, Arschlöcher.
All die Scheißmänner, die so waren wie Konstantin.
Viktorias Schuhe klapperten auf dem asphaltierten Feldweg. Sie sah die Wiese mit den Pferden. Sie grasten, ihr schwarzes Fell glänzte in der Nachmittagssonne. Ab und zu zuckten die Muskeln unter der Haut. So vertrieben die Tiere die Schmeißfliegen, die ihr Blut trinken wollten.
Viktoria ließ ihre Hand auf den Unterarm knallen. »Mistviecher!«, fluchte sie, und die Fliege surrte davon. Viktoria bog rechts ab. Der Feldweg verlief direkt neben der Koppel, eine dicke Hummel brummte am Straßenrand, die sattgelben Blumen dort hatten sie angelockt. Hübsche Farbe, dachte sie. Ob das Hahnenfuß war?
Sie entdeckte die Abzweigung links und überquerte die Straße. An beiden Seiten des Weges warfen Bäume ihren Schatten auf den Asphalt. Kastanien.
Ihre Blätter raschelten, irgendwo bellte ein Hund.
Viktoria ging weiter, durch den kühlen Schattentunnel der mächtigen Bäume.
Sie musste ihre Designerbrille
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