Schützenkönig
Elisabeth, Weidenweg 12, dann die vier Nummern. Die Leitung war frei, es tutete und tutete, niemand nahm ab. Dann würde sie wohl später einen Überraschungsbesuch machen müssen. Meist war das sowieso die bessere Reportertaktik. Klingeln, mit Freundlichkeiten überrumpeln, weichklopfen. Viktoria wusste nicht mehr, wie oft sie auf diese Weise von Verwandten und Freunden ermordeter Berliner herzergreifende Geschichten geliefert bekommen hatte.
Sie und ihre Kollegen vom Express mussten nie den Fuß in die Tür stellen. Sie waren einfach lieb und mitfühlend und wenn sie das Wort »Polizeiredaktion« etwas vernuschelt aussprachen, dachten die trauernden Witwen, sie hätten es mit Kommissaren zu tun. Warum das Missverständnis aufklären, wenn es doch allen damit gut ging?
Die traurigen Opfer wurden ihre traurige Geschichte los, und die anderen schrieben sie einfach nur auf. That’s it, oder?
Viktoria wusste, dass es nicht so einfach war. Charly Berendsen hatte immer gesagt: »Moral ist doch scheiße, nimm das M weg, da steh ick drauf.«
Als das Freizeichen zum zwanzigsten Mal ertönte, legte sie auf.
Elisabeth Upphoff war ganz offensichtlich nicht zu Hause, also konnte sie sich reinen Gewissens der verbitterten Martha und ihrem verschwundenen Mann widmen. Die Emanze, die den Schützenverein niederschießen wollte, würde eben warten müssen.
Mario lag immer noch in seinem Bett, stank nach schalem Weizenbier und bekam nicht mit, dass Viktoria sich auf den Weg machte. Sie folgte Harrys Beschreibung: fünfhundert Meter Richtung Pferdewiese, zweihundert Meter Richtung Jesus-Kreuz und ein kleines Stückchen Richtung Wahrheit. Nach den ersten paar Schritten klingelte ihr Handy. Ihr Chef war dran und meckerte sofort los. »Mann, Viktoria, erreicht man Sie auch mal?! Sie können doch nicht Ihr Handy einfach …«
»Ich habe hier kaum Empfang, Chef. Es ist reiner Zufall, dass Sie mich jetzt überhaupt erreichen.«
»Na, egal. Wie sieht’s aus? Kriegen Sie alles hin? Die Geschichte ist in der nächsten Sonntagsausgabe!«
»Kein Problem.«
»Was?! Ich höre nichts …«
»Jetzt besser?«
»Nein!«
Sie schrie ins Telefon: »Ich sagte, kein Problem!«
»Okay.« Der Chef legte auf.
Nette Verabschiedung, dachte sie und sah dann das Briefsymbol auf dem Display. Ihre Mutter hatte ihr auf die Mailbox gesprochen. Ihr Ton war vorwurfsvoll, wie immer: »Viktoria, ich mache mir Sorgen. Habe so lange nichts von dir gehört.«
Sie rechnete nach. Es war weniger als achtundvierzig Stunden her, dass sie mit ihr Nichtigkeiten am Telefon ausgetauscht hatte. Obwohl sie genervt war, rief sie an.
»Mama?«
»Na endlich, Viktoria! Wo steckst du? Auf deinem Festnetz konnte ich dich mal wieder nicht erreichen.«
Sie merkte, dass die Funkwellen schon wieder schwächer wurden.
»Ich bin hier in irgendeinem Kaff und mache ’ne Schützenfestreportage.«
»Was machst du? Ich verstehe dich so schlecht.«
»Ich bin in einem Kaff, in Westbevern.«
»Wo?« Ihre Mutter wurde lauter.
»In Westbevern!« Sie sprach ganz langsam, laut und deutlich.
»Wo?«
Jetzt reichte es ihr. So konnte man nun wirklich nicht telefonieren. »Mama, ich ruf dich später wieder an. Ich hab hier total schlechten Empfang.«
»Tori, leg nicht auf!« Fast hysterisch klang das, doch Viktoria blieb hart. »Ich höre nichts mehr. Bis später.«
So ein Empfangsloch ist unberechenbar, dachte sie und steckte das Handy in ihre Tasche.
Ausschalten, wegdrücken. Das war die beste Methode, um mit ihrer Mutter klarzukommen. Jahrelanges Training hatten sie zu einer Virtuosin in Sachen »Ich hör einfach nicht hin« gemacht. Hätte sie immer hingehört, wäre sie wahnsinnig geworden – oder so wie sie. Viktoria wollte beides nicht.
Ihre Mutter war einmal eine Schönheit gewesen – und ist es eigentlich noch. Klein, zierlich, schlank. Als junge Frau hatte sie lange schwarze Haare, die in wunderbaren Wellen auf ihre zarten Schultern fielen. Viktoria hatte alte Fotos von ihr gesehen und fand, dass sie ein bisschen aussah wie Uschi Obermaier aus der legendären Kommune 1. Inzwischen durchzogen graue Strähnen Maries Lockenpracht, doch das machte sie nur noch interessanter. Sie hatte einen kleinen roten Mund, den sie nicht einmal zu schminken brauchte, so rot strahlte er. Wenn sie einen Schmollmund aufsetzte, und das tat sie sehr oft, sah sie aus wie eine trotzige Lolita. Eigentlich ein Witz: eine fünfzigjährige Lolita. Doch die Männer standen schon immer drauf. Auch
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