Schützenkönig
der Verschwörung: »Na ja, ich habe da nur so was gehört. Bin ja nicht eine von diesen Klatschtanten, die überall ihre Nase reinstecken, aber man sagt, dass was mit der Ehe nicht in Ordnung ist. Er, also der Ferdinand, soll ihren Hochzeitstag vergessen haben. Und da sind wir Frauen ein bisschen empfindlich.« Sie blinzelte Viktoria zu. »Aber statt ihm einfach gehörig die Meinung zu sagen, wollte sie ihm wohl richtig eins auswischen. Alle wissen hier, dass für Ferdinand der Schützenverein heilig ist und dass er in diesem Jahr unbedingt König werden wollte. Wahrscheinlich hat ihr das nicht gepasst. War eifersüchtig auf die Schützenbrüder.«
»Und jetzt? Wird er dieses Jahr Schützenkönig, obwohl seine Frau ihn bis auf die Knochen blamiert hat?«
»Keine Ahnung, alle sprechen drüber, aber keiner weiß es, und keiner will ihn direkt fragen. Wird bestimmt nicht leicht für ihn, denn wenn er den Vogel runterholt, muss er ja auch eine Königin bestimmen. Was soll er denn dann machen? Und wenn er nicht mitschießt, denken alle, dass sie es geschafft hat mit ihrer irren Aktion.«
Die Cola war fertig. Viktoria nahm das Glas, bedankte sich brav bei Rosa und wollte schon gehen, als ihr Blick auf den Stapel mit den Speisekarten fiel. »Entschuldigung, eine Frage hätte ich noch.« Rosa schaute auf. »Der Biber da auf der Karte.«
»Ja? Was ist damit?«
»Der sieht so aus wie der Biber im Schützenvereinslogo.«
»Logo? Ach Sie meinen, der sieht so aus wie der Biber auf der Fahne.«
»Genau.«
»Stimmt. Er ist halt unser Wappentier. Aber besonders schön ist er nicht, oder?«
Viktoria lächelte. »Wahrlich nicht. Aber sagen Sie, haben Sie vielleicht auch Briefpapier, auf dem er zu sehen ist?«
Rosa schüttelte verständnislos den Kopf. »Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe?« Dann verschwand sie durch die Schwingtür.
Viktoria ging Mario wecken. Er hörte nicht ihr Klopfen, erst als sie in seinem Zimmer stand, die Vorhänge aufriss und ihm die kalte Cola entgegenstreckte, rekelte er sich mit einem lauten Gähnen. Er stützte sich auf, nahm das Glas und trank es in einem Zug.
»Ah, das tut gut. Eine gute Idee, Victory. Ich hoffe, wir müssen jetzt nichts Wildes mehr machen. Das überlebe ich nicht.«
»Nee, es ist genau das Richtige für einen fetten Kater. Wir gehen jetzt zum Seniorennachmittag. Ist zwar fast schon zu Ende, aber einen Kaffee kriegen wir bestimmt noch.«
»Muss das sein?«
»Ja, muss. Diese Elisabeth Upphoff ist immer noch nicht zu Hause, und es ist der erste offizielle Fest-Termin. Also, aufstehen, anziehen, losfahren! Wir treffen uns in zehn Minuten vorm Eingang.«
Mario fuhr trotz Restkater und Viktorias Einspruch selbst. Bis zum Schützenzelt waren es bestimmt noch mal drei Kilometer. Es stand genau zwischen Westbevern und Telgte, sie hatten es schon vorher auf dem Weg zu den Telgter Nachrichten von der Straße aus gesehen. »Ich bin wieder topfit«, sagte Mario wenig überzeugend. »Komm, Victory, ich habe einfach keinen Bock zu laufen.« Sie stiegen ein, und er rülpste leise. Viktoria gab ihm wortlos einen Kaugummi. Er steckte ihn sich in den Mund und war plötzlich unverschämt gut gelaunt. Viktoria vermutete, dass er noch angeheitert war. Hämisch kommentierte er jeden, den sie auf dem Weg zum Festzelt sahen. Und das waren viele. Von überallher strömten grün-schwarz gekleidete Männer mit Hüten und Frauen in viel zu gemusterten Röcken, viele wankten heimwärts, sie hatten offensichtlich schon gefeiert, einige plauderten fröhlich miteinander, andere gingen ganz schnell, als drohte ihnen sonst, etwas Wichtiges zu verpassen. Mario lästerte: »Guck mal die Hochwasserhose da, Victory! … O Gott, o Gott, die Jacke spannt ja ganz schön, gleich springen die Knöpfe ab, Achtung! … Nee, guck mal schon wieder ’n roter Kopf. Hast du die Frau gesehen, ganz schön moppelig … Oh. Schau, wie wichtig der geht, der ist bestimmt im normalen Leben auch General oder mindestens Oberst, oder er wäre es gern.«
Viktoria hörte nicht zu. Das bleiche Gesicht von Martha Lütkehaus ging ihr nicht aus dem Kopf. Ihr stummer Schrei. Warum hatte sie Viktoria angesehen, als sei sie Mrs. Oberhorror? Klar, alle sagten, sie sei seltsam geworden, lebe sehr zurückgezogen, sie sei garstig, frustriert. Aber verrückt und total verängstig? Das hatte keiner gesagt.
Sie bogen rechts auf den Feldweg ab, der direkt zum großen Zelt führte. Eine Frau stand alleine am Abzweig und sah ihnen nach.
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