Schützenkönig
gewechselt hatte, meine Arbeit als Rechtsanwaltsgehilfin, die ich für die Kinder aufgegeben hatte – das war auf einmal alles in meinem Kopf. Fast dreißig Jahre lang habe ich alles getan, damit er mich liebt – und er vergaß UNSEREN Tag. Ein Tag im Jahr, an dem er mir zeigt, dass auch er mich liebt.«
»Und da hatten Sie die Idee …«
»Da hatte ich die Schnapsidee. Ich kaufte mir eine Schützenfestuniform und hängte sie in den Schrank. Ich wollte ihn provozieren.«
»Und das ist Ihnen gelungen.«
»Leider viel zu gut. Ich dachte, er würde sich aufregen, mit mir streiten oder schimpfen. Dann hätte ich Grund gehabt, ihm den vergessenen Hochzeitstag vorzuhalten. Stattdessen schwieg er. Er sagte nichts mehr, kein Sterbenswörtchen. So als existiere ich gar nicht. Das hat mir richtig Angst gemacht. Das Einzige, was ich noch hatte, war diese blöde Idee mit der Schützenkönigin. Ich hielt also daran fest. Irgendwann muss er sich doch mal aufregen, dachte ich. Irgendwann schreit er mich an. Immer noch besser als dieses Gefühl, unsichtbar zu sein.«
Elisabeth Upphoff begann zu weinen.
Viktoria reichte ihr ein Papiertaschentuch und kramte in ihrer Tasche nach einem Block. Mist, wieder nichts zu schreiben. Sie blickte sich um. »Frau Upphoff, hätten Sie vielleicht ein Blatt Papier für mich?«
Das Schluchzen stoppte für einen Moment. Elisabeth stand auf, ging zur Eichenanrichte. Dort stand ein Würfelbecher auf einem Blatt Papier. Kniffeltabellen waren darauf gemalt. Sie drehte es, zeigte auf die leere Seite. »Reicht das? Seitdem die Kinder aus dem Haus sind, habe ich gar kein Malpapier mehr.« Ihr Versuch zu lächeln scheiterte. Doch Viktoria lächelte und griff nach dem Blatt. Sie ließ den Kugelschreiber klicken. Sie schrieb: Elisabeth und machte einen großen Doppelpunkt dahinter. Dann hörte sie zu.
An jenem Abend war Ferdinand zur Schützenversammlung gegangen. Mal wieder hatten sie den Tag über kein Wort gewechselt, nicht mal verabschiedet hatte er sich. Elisabeth wusste, dass sie auf dem Treffen auch über sie sprechen würden und darüber, dass sie mitschießen wollte. Sie hatten es ihr verboten. Klaus, der Vereinsvorsitzende, war extra am Vormittag vorbeigekommen, um ihr mitzuteilen, dass sie am Schießstand nicht erwünscht sei. Er hatte dabei dümmlich gegrinst und ihr die Schultern getätschelt. Sie war wütend geworden und hatte ihm gesagt, dass der Verein es gar nicht verbieten dürfte, dass die Satzung nichts davon sagte, dass Frauen nicht schießen dürften. Sie war zwar keine Juristin, aber der Anwalt, bei dem sie als junge Frau gelernt hatte, hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie mit ihrem Verstand locker das Jurastudium geschafft hätte. »Elisabeth, Sie haben Paragrafentalent«, hatte er gesagt und ihr auf die Schulter geklopft. Das hatte sich gut angefühlt. Nicht so widerlich wie das Schultertätscheln von Klaus. Klaus, der Wichtigtuer, der sich was darauf einbildete, dass sein Brückenbauunternehmen Beverbrücke in ganz Deutschland Aufträge bekam. »Mit Bühlbecker Brücken bauen«, war sein Werbeslogan. Und seitdem er Vereinsvorsitzender der Schützen war – und das war er schon seit Jahrzehnten –, wurde dieser Slogan abgewandelt oder eins zu eins in jede seiner Reden eingebaut. Selbst bei seinem Besuch bei Elisabeth konnte er es sich nicht verkneifen. »Elli«, sagte er. »Ich kann dir hier keine Brücke bauen.« Elisabeth hatte die Augen verdreht. Doch er ließ sich nicht beirren. »Auch wenn du dich hier als Frau Rechtsanwältin aufspielst, du hast etwas Wesentliches vergessen. Frauen im Allgemeinen dürfen vielleicht schießen, weil es nicht ausdrücklich in der Satzung verboten worden ist – blöderweise. Aber du im Speziellen darfst nicht, Elli!« Dann hatte Klaus breit gegrinst. »Du bist nämlich nur passives Vereinsmitglied. Du musst aber aktives Vereinsmitglied sein, um schießen zu dürfen. Und als Vereinsmitglied nehmen wir dich nur auf, wenn zwei Mitglieder für dich bürgen. Und für dich bürgt hier niemand.« Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte, seit sie denken konnte, für den Seniorenkaffee Kuchen gebacken, sie hatte bei der Tombola mitgeholfen und sogar freiwillige Thekendienste beim Schützenfest übernommen. Jetzt wurde sie behandelt wie Abschaum. Ausgerechnet von Klaus, dem Großmaul. Deshalb und nur deshalb hatte sie gedroht, die Sache vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen. Der Vorsitzende hatte laut gelacht und dann die Tür
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