Schützenkönig
unter den Kniffeltabellen das Wasserzeichen eines hässlichen Bibers schimmerte, sah sie nicht.
9. Kapitel
»Ist die Zapfanlage wieder in Ordnung, Harry?« Viktoria wusste selbst nicht, ob sie das wirklich interessierte oder ob sie einfach nur wissen wollte, ob Kai inzwischen wieder da gewesen war.
»O ja. Die ist mehr als in Ordnung. Kai hat gute Arbeit geleistet.« Harry strahlte. »Ein netter Junge.« Während er das sagte, blinzelte er Viktoria freundlich zu.
Sie nickte nur. »Klasse. Dann hätte ich jetzt gern ein frisch gezapftes Pils vom Fass.«
»Ich auch, ich auch!« Mario setzte sich zu ihr. »Was liegt als Nächstes an, Chefin?« Er hatte sich nicht umgezogen. Viktoria hingegen hatte ihren gesamten Rollkofferinhalt einmal an- und ausprobiert, als sie nach dem Besuch bei der traurigen Elisabeth ins Gasthaus zurückgekommen waren.
»Wir gehen zum Biwak, das ist so eine Art Lagerfeuer für Erwachsene.«
Und genau das war ihr Problem. Was zog man bei so was an? In ihrem Köfferchen befanden sich weder geländegängige Wanderschuhe noch eine feuerfeste Windjacke. Sie hatte keine Lust, mit den Sommersandalen zum Gespött der Westbeverner Landbevölkerung zu werden. Sie hörte schon die hämischen Sprüche: »Oh, schaut mal, da stöckelt die Stadtfrau durch den Matsch. Ist ihr nicht kalt in diesem zarten Rock?« Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Joggingschuhe anzuziehen, denn die hatte sie immer dabei. Dazu eine Jeans, der pinkfarbene Pulli musste schon wieder ran und der Trenchcoat. Es sah furchtbar aus – Achtzigerjahre-Revival hin oder her.
Als das Bier vor ihr stand, merkte sie, wie groß ihr Durst war. Das Glas war leicht beschlagen, die Krone perfekt. Sie stieß mit Mario an, Harry zündete gerade die kleine Kerze auf dem Tisch an, sein Ellenbogen berührte die Hand, in der sie das Glas hielt. Sie erschrak, zuckte, und das kühle Glas rutschte ihr aus den Fingern. Es fiel mit einem stumpfen Plopp auf die Tischplatte, kippte, und sein Inhalt ergoss sich in einer großen Pfütze. Viktoria sprang auf, damit nichts auf ihre Jeans tropfte, Harry rannte zur Theke, um einen Lappen zu holen, und Mario lehnte sich zurück. Er setzte sein unversehrtes Bier an die Lippen und trank es in einem Zug leer. »Aaah!«
Viktoria funkelte ihn an: »Schön, dass es dir schmeckt.«
»Tut es.« Er grinste.
Sie schaute auf die Uhr. Harry tupfte hektisch den Tisch trocken. »Oje, das tut mir leid. Ein neues, Frau Latell?«
»Nee, Harry, lassen Sie mal. Wir müssen los. Sind sowieso schon knapp dran.«
Sie warf ihre Tasche über die Schulter, Mario stellte sein Glas ab und erhob sich seufzend. Dreißig Sekunden später saßen sie wieder in seinem Barchetta. Er rülpste, Viktoria hatte Durst.
Schweigend fuhren sie auf der Landstraße, die den Ortsteil Telgte-Westbevern und Telgte miteinander verband. Es war kurz nach neun. Viktoria gähnte, Mario rieb sich die Augen. Ein Mann, der rechts auf dem Fußweg Richtung Festzelt unterwegs war, winkte ihnen freundlich zu, als kenne er sie schon seit Jahren. Es war einer der Würfelfreunde von Mario. »Ach, Ludger«, sagte er und nickte. Links grasten ein paar Pferde, ein Fohlen stand dicht neben seiner Mutter. Sie überholten einen Trecker und bogen wieder rechts ab, Richtung Festzelt. Fußgängergruppen waren unterwegs, einige Radler. Mario passte sich dem Schritttempo an und parkte wieder auf der gemähten Wiese gleich hinter dem Zelt. Den Trenchcoat ließ Viktoria erst einmal im Wagen, noch war es viel zu warm dafür. Sie schaute sich um und war erleichtert. Ihre Kleidungswahl war genau richtig gewesen. Turnschuhe, Jeans – so sahen hier viele aus. Nur die Mitglieder des Schützenvereins hatten sich ihre Uniformen angezogen. Schwarze Hose, grüner Gehrock, Jägermütze. Sie schaute kurz in das Zelt, in dem vorher noch die Senioren Kaffee getrunken hatten. Es war fast leer. Nur an der langen Theke hatte sich eine Traube aus grünen Jacken, violettblusigen Frauen und Teenagern mit bauchfreien Tops – die Mädchen – und Schlacker-Hosen – die Jungen – gebildet. Sie notierte die geschätzte Schlangenlänge – einundzwanzig Schritte – auf Harrys Bestellblock, den er ihr geschenkt hatte. Bloß raus aus der schwülen Hitze hier drin, dachte sie und drehte sich um.
»Hallo.«
Sie wusste, wer es war, bevor sie aufblickte. Es war Kai. Der Meister der schlichten Begrüßung.
»Hi.« Das war die Antwort von ihr, der Meisterin der noch schlichteren
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