Schützenkönig
zugeknallt. Und als Ferdinand abends zur Versammlung ging, hatte Elisabeth schlimme Magenschmerzen.
Sie schaltete den Fernseher ein, es lief eine Dokumentation zum Thema Amokläufe, die sie nicht interessierte. Sie konnte nicht richtig zuhören, und auch die Bilder kamen gar nicht in ihrem Kopf an. Der Magen grummelte. Sie öffnete das Vitrinenschränkchen und nahm sich einen Fernet heraus. Vielleicht würde der helfen. Sie trank ein Glas und fühlte sich gleich etwas besser. In der Glasvitrine standen noch viele volle Flaschen aus ihren Spanien- und Griechenlandurlauben. Wer soll die eigentlich jemals trinken?, dachte sie. Dann wusste sie die Antwort: Ich! Zuerst probierte sie den Ouzo, dann den Rioja, dann einen Schluck süffigen Weißwein, danach wieder einen Ouzo. Was in den anderen Flaschen war, wusste sie gar nicht, aber sie trank von allem etwas. Sie prostete dem Fernseher zu und fühlte sich großartig. »Hey, du Amoktyp da. Ich bin Sue Ellen!«, lallte sie und torkelte zum Gerät. Gerade wurden Fotos gezeigt von jungen Männern, die sich schwer bewaffnet selbst fotografiert hatten. »Hey, ihr Bürschchen«, grölte Elisabeth. Nach dem zehnten Glas musste sie pinkeln. Der Weg zum Gästeklo kam ihr auf einmal ganz unbekannt vor, früher hatten hier doch die Wände nicht gewackelt. Sie fiel hin. »Verflucht, was ist das denn?« Sie war über den Karton gestolpert. Sie hatte ihn mittags aus dem Keller geholt, weil sie ihn in den Müll hatte schmeißen wollen. Die Kinder verkleideten sich ja schon lange nicht mehr. Weg mit dem Karnevalszeug! Der Deckel des Kartons stand offen. Elisabeth sah etwa blitzen. »Was haben wir denn da?« Sie zupfte an dem Glitzerding und zog einen Patronengurt heraus. Ach ja, die alte Rambo-Verkleidung ihres Sohnes. Wankend und lachend wickelte sie sich den Gürtel um den Körper, schaffte es sogar, damit auf die Toilette zu gehen, und stellte sich danach vor den Garderobenspiegel. Im Hintergrund lief der Fernseher, sie hörte Schüsse und ernste Moderatorenstimmen. Ihr fielen die Jagdwaffen von Ferdinand ein. Sie waren im Waffenschrank im Keller – und dann schwankte sie die Treppe herunter.
Sie bückte sich unter den Handtüchern, die auf der Wäscheleine hingen, die quer durch den großen Raum gespannt war. Früher hatten sie hier so manche Party gefeiert, doch mit den Jahren feierten sie weniger, und auf der selbst gebauten Theke stapelten sich zusammengelegte Handtücher und Bettbezüge. Der ausgestopfte Fuchs an der Wand gegenüber erinnerte sie an die fröhlichen Nächte mit ihren Freunden und Nachbarn. Damals waren die Kinder und die Hecken zu den anderen Gärten noch klein. Das verband. Der tote Fuchs war der Partygag! Ferdinand hatte seine Augen mit kleinen Glühbirnen ausgestattet, ein Kabel gelegt und den Schalter unter der Theke installiert. Drückte er ihn, leuchteten die Augen des Raubtieres rot auf. Was für ein Spaß.
Elisabeth drückte den Schalter – es passierte nichts. Die Glühbirnen waren längst kaputt. Dann wankte sie zum Tier und streichelte sein Fell. Staub stieg ihr in die Nase, sie musste niesen. Dann griff sie vorsichtig in sein Maul – ja, er war da. Der Schlüssel zum Waffenschrank. Ferdinand hatte ihn hier versteckt und es sich nicht verkneifen können, es seiner Frau zu erzählen. Er fand es lustig, dass ausgerechnet ein von ihm erlegtes Tier den Schlüssel zu den tödlichen Waffen verwahrte.
Der Waffenschrank stand im Heizungskeller nebenan. Das Neonlicht spiegelte sich in der schmalen hohen Metalltür, der Schlüssel glitt ins Schloss.
Sie besaß zwar keinen Jagdschein, doch sie wusste, was sie vor sich hatte. Eine Doppelflinte der Marke Merkel 202 und eine Büchse Sauer 80. Mit der Flinte jagte Ferdinand Hasen, Kaninchen, Fasane, Enten und Rehe. Mit der Büchse ging er auf Wildschwein, Fuchs, Hirsch. Elisabeth stellte sich vor, wie der Vereinsvorsitzende aussehen würde, wenn er ein Wildschweingesicht hätte, oder wie Ferdinand mit Entenfüßen gehen würde – sie lachte und rief: »Waidmannsheil!« Im Kellerflur hallte das Echo ihrer schrillen Stimme nach.
»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe«, Elisabeths Gesicht war nass von Tränen. »Ich fühlte mich so stark und war so wütend, da bin ich einfach los.«
Die Nacht, in der Elisabeth Upphoff mit den Jagdgewehren auf ihrem Rücken in den Gasthof König marschierte, war die großartigste Nacht im Leben von Tim Möcke. Der Zehnjährige wohnte mit seinem Hamster Manni, Mama
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