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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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Suchcomputern hatte selbst er noch nicht. Also: Thomas musste mit Infos gefüttert werden!
    Barfuß, in T-Shirt und Schlaf-Shorts schlich sie auf den Flur des Gasthauses. Die Dielen knarrten ein bisschen und fühlten sich angenehm an unter ihren Sohlen. Leise, ganz leise tapste sie an Marios Zimmer vorbei Richtung Treppe. Es war dunkler, als sie dachte. Draußen schrie eine Katze, es klang, als würde ein Kind gequält. Dann war es still. Die Treppe, die ersten Stufen nach unten, die Dielen muckten nicht mehr auf. An der Wand warfen die Rahmen mit den Fotos der Schützenkönige schwarze Schatten. Alle Bilder waren jetzt schwarz-weiß, die Nacht hatte die Farben verschluckt. Viktoria las die Jahreszahlen, die Namen, sie suchte. 1980, 1979, 1978, 1977 …
    Ein kühler Windzug strich um Viktorias Fesseln, nur kurz. Sie achtete nicht darauf, denn das, was sie sah, oder eher, was sie nicht sah, ließ sie den Atem anhalten. Bernhard Lütkehaus fehlte! Das Bild, der Mann mit den blonden Haaren, der Schützenkönig von 1976, er war verschwunden. Kein Déjà-vu, keine Einbildung, kein Traum. Ihre Hand berührte die leere Stelle an der Wand. Irgendjemand hatte das Foto von Bernhard Lütkehaus von dieser Wand genommen und einen etwa zehn mal zwanzig Zentimeter großen weißen Fleck hinterlassen. Dann hörte sie es. Leise, aber deutlich: »Klapp.« Eine Tür fiel ins Schloss.
    Viktoria rannte, rannte, rannte. Die Treppe hoch, den Flur entlang, an Marios Tür vorbei, in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, sie hatte Angst.
    Viktoria knipste das Licht in ihrem Zimmer nicht an, das Bett, ihr Koffer, die Joggingschuhe – sie konzentrierte sich auf die Schatten, um ruhiger zu werden. Die vier Schritte bis zum Fenster waren meilenweit. Sie ging so leise und vorsichtig, als sei der Teppich mit hochexplosivem Glyzerin getränkt. Von hier oben konnte sie den kleinen Parkplatz vor dem Gasthaus überblicken. Links stand Marios Barchetta. Sein gelber Lack schimmerte im fahlen Licht des abnehmenden Mondes. Harrys Bulli stand direkt vor der Tür, ein bisschen schräg. Den dunkelblauen Golf ganz rechts, direkt neben der Grenzhecke konnte Viktoria kaum erkennen. Er war fast vollkommen im Schatten verborgen. Doch ihn, ihn erkannte sie. Er hatte die Fahrertür schon geöffnet, als er sich noch einmal umdrehte. Er blickte nach oben, in die Richtung ihres Fensters. Viktoria stolperte rückwärts und schnappte nach Luft. Dann sprang der Motor an, der Wagen fuhr vom Hof. Sie dachte: Coole Turnschuhe.
    Katzen schreien wie Kinder, sagen sie. Aber du schreist gar nicht wie eine Katze. Bist ganz ruhig, ganz lieb. Wenn du eine Katze wärst, würdest du wieder aufwachen, dann hättest du sieben Leben. Doch du schläfst. Für immer. Du hast nur ein Leben. Und das eine Leben ist zu Ende. Ich habe gemacht, dass es zu Ende ist. Es tut mir leid, mein kleines Kätzchen. Ich werde dich in Papas Bett legen, dort ist es kuschelig. Der Frauenmantel wird sich über dir ausbreiten, er wird dich schützen. Er hat sich versündigt, doch du, du bist brav gewesen. Ganz brav und so still.
    Marie Latell rückte ein Stückchen zur Seite. Der Mann, der sich neben ihr auf der Bank niederließ, schaute sie lange an. Doch sie merkte es nicht. Sie blickte starr auf das trübe Wasser des Landwehrkanals. Dann schenkte sie sich nach. Sie hatte die Flasche Rotwein schon fast leer getrunken, die letzte Pfütze landete in ihrem Glas, das sie extra mitgenommen hatte. War ja nicht weit bis zu ihrem Lieblingsplatz, hier am Paul-Lincke-Ufer. Sie hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Sie brauchte jetzt die Geräusche, den Großstadtlärm. Obwohl es schon mitten in der Nacht war, war es hier nie still. Es sei denn, es regnete oder schneite. Aber jetzt, im Sommer, da waren die Wiesen von Kreuzberg bevölkert mit Menschen, die tranken, rauchten, sich küssten oder in den Mond schauen wollten. Der Mann neben ihr wollte reden oder helfen oder er war neugierig. Er räusperte sich. »Entschuldigung, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
    Marie sah im Mondlicht den Umriss eines Schwans, der unbeholfen über den Rasen humpelte. Sie sagte nichts. Sie hatte die Frage nicht gehört.
    »Sie sehen traurig aus«, sagte der Mann. »Vielleicht wollen Sie ja darüber reden?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht reden. Sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte mehr Rotwein. »Kommst du mit?« Sie fragte nicht, sie stellte es fest. Er stand

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