Schützenkönig
auf. Und dann gingen sie am Ufer entlang.
»Wohnst du in der Nähe?«
Er nickte.
»Hast du Rotwein zu Hause?«
Er nickte.
»Dann nimm mich mit.«
Er schüttelte den Kopf. »Lass mal«, sagte er. »Ich wollte dir wirklich nur helfen.« Erst jetzt sah sie, dass er wahrscheinlich dreißig Jahre jünger war als sie. Sie schaute ihn traurig an. »Mir ist nicht zu helfen.« Der Unbekannte, der sich gerade zum Gehen umgedreht hatte, blieb stehen.
»Bist du krank?«
»Hast du ’n Helfersyndrom?« Marie zündete sich eine Zigarette an.
»Ne, aber zwei Ohren zum Zuhören.«
Marie zog an der Gauloise, atmete tief ein und blies den Rauch ganz langsam in sein Gesicht. Sie flüsterte: »Dann sperr deine beiden Ohren mal ganz weit auf, Jüngelchen. Ich bin nicht krank. Ich bin am Arsch.«
Kai kniff die Augen zusammen. Dieses verdammte Neonlicht. Gut, dass es bald durch moderne Strahler ersetzt werden würde. Auf dem frisch abgeschliffenen Holzparkett lagen Stoffbahnen, sie schluckten jedes Geräusch. Der schwere, große Schreibtisch war unter einer Folie versteckt. Das einzige Möbelstück, das er behalten wollte. Als kleiner Junge hatte er oft auf dem Drehstuhl gesessen und in der Schublade gewühlt. Es roch darin so gut. Nach Geheimnis, nach Pfefferminzbonbons, nach frisch angespitzten Bleistiften – nach seinem Vater. Die Wände sahen rau und grau aus ohne die Tapeten. Es roch nach Holz und altem Kleister. In der Ecke neben dem Fenster stand, was er suchte. Ein Stapel Umzugskartons. Vollgepackt mit Aktenordnern, Papieren, medizinischen Fachbüchern und Röntgenbildern. Sein Vater hatte immer alles sortiert, katalogisiert, notiert. Er musste lächeln. Als er vor einem halben Jahr umgefallen war, weil sein Herz nicht mehr schlagen wollte, traf es ihn und seine Mutter zwar hart, aber nicht unvorbereitet. Kais Vater, Doktor Johannes Westmark, hatte ihnen frühzeitig mitgeteilt, dass sein Herz angegriffen sei, und er hatte einen Ordner angelegt. Als er also an diesem ersten Februartag tot auf dem Perserteppich im heimischen Wohnzimmer lag, brauchte seine Frau Christel nur nachzuschlagen, was zu tun war. Arzt anrufen, Tod feststellen lassen, seinen grauen Anzug herauslegen, das Bestattungsunternehmen Schleicher kontaktieren, die Zeitung wegen der Anzeige instruieren. Vereinsmitgliedschaft beim Sportverein, Schützenverein und beim Club der Preußen-Münster-Fußballfans kündigen. Den Sarg hatte er schon ausgesucht, bezahlt und reservieren lassen. Der Text für die Todesanzeige war formuliert. Er wünschte sich keine Blumen und wollte auch sonst auf jegliches Tamtam verzichten. »Ach, Papa.« Kai seufzte, als er die Aktenordner aus den Kisten nahm. Er suchte bei L. Da war der Ordner. Lau, Laukötter, Lehmann, Lindenkamp, Lilienbecker, Lohmann, Lütke Ahlert, Lütkehaus. Bernhard Lütkehaus! Kai schob den Metallhebel hoch und öffnete die Aktenklammer. Die Folie raschelte, als er sie vom Schreibtisch riss, er packte die Krankenakte auf die Lederunterlage und blätterte. Es war alles da. Jeder Husten, jeder Schnupfen, ein gebrochener Finger, eine Bindehautentzündung. Kais Vater war also tatsächlich der behandelnde Arzt von Bernhard Lütkehaus gewesen. Kai blätterte weiter. Da lag er vor ihm. Der Totenschein. Unterschrieben von seinem Vater, sorgsam kopiert von seinem Vater. Akkurat abgeheftet von seinem Vater. Als Todesursache stand dort: Pneumonie, also Lungenentzündung. Kai rechnete nach. Bernhard Lütkehaus war erst vierunddreißig Jahre alt, als er starb. Aber es konnte durchaus sein, dass er seine Krankheit nicht ernst genommen und verschleppt hatte – und dann war es zu spät gewesen. Tragisch, ja. Aber mysteriös? Nichts, was in einer Berliner Boulevardzeitung stehen sollte, dachte er. Nichts, was diese seltsame Viktoria etwas anging.
Klaus Bühlbecker war sehr zufrieden mit sich und der Welt und dem Schützenfest. Er knipste das Nachttischlämpchen aus und schloss die Augen. Seine Frau schlief schon lange am anderen Ende des Flurs, im ehemaligen Kinderzimmer ihres Sohnes. Es war für beide besser. Er bettelte nicht mehr, sie hatte ihre Ruhe, und er konnte ganz in Ruhe ein bisschen Telefonsex in Anspruch nehmen, wenn er es wollte. Wollte er jetzt? Er war sich nicht sicher. Nein, er wollte lieber noch ein bisschen von den Haaren dieser Reporterin träumen. Er stellte sich vor, wie sie ihn mit ihrer Mähne streichelte, und genoss seine Erektion. Die jungen schwarzhaarigen Dinger, er konnte ihnen einfach nicht
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