Schützenkönig
Fee sie befreien können?
»Fuck, fuck, fuck!« Viktoria war plötzlich hellwach. So konnte es nicht weitergehen. Ich bin verdammt noch mal clever, dachte sie. Ich bin Victory, die abgebrühte Recherche-Sau! Und so grunzte sie kurz, knipste das Licht an und nahm die Sache wieder in die Hand. Sie hatte eine Idee.
Nicos Mutter wollte nicht schnüffeln. Sie wollte es wirklich nicht. Ihre Angst, etwas zu finden, war viel zu groß. Also nahm sie den Swiffer mit dem Stab und wuselte ganz oberflächlich durch Nicos Regal, um wenigstens den gröbsten Staub elektrostatisch aufzuladen und damit an das Wegwerftuch zu binden. In ein paar Sekunden hatten sich unzählige Staubwolken zu einer Riesenwollmaus vereint, ein neues Tuch musste her. Damit machte sie sich an die Anlage, den Nachttisch, den Schreibtisch. Sie hätte schon blind sein müssen, um es zu übersehen. Unter einem Stapel Motorradmagazine, alter Mediamarktprospekte und dem Matheheft lag ein Pornomagazin. Nicos Mutter lächelte. Vielleicht, dachte sie, vielleicht wird doch alles wieder gut. Auch wenn es sie ekelte, die mit Makrofunktion aufgenommenen Genitalien auf der Titelseite anzuschauen. Es ist normaler Jungskram, dachte sie. Ganz vorsichtig legte sie das Heft zurück unter den Stapel. Es deckte den Zettel zu, der über und über vollgekritzelt war. Nico hatte immer wieder Worte aus dem seltsamen Brief aufgeschrieben, der damals bei Sarahs Leiche gefunden worden war. Das E von Engel hatte es ihm besonders angetan. Immer wieder schlang sich der Bogen vom E über das Papier. Nicos Mutter schaute nicht hin. Sie wollte nicht hinschauen. Die Polizei hatte damals ein grafologisches Gutachten erstellen lassen. Nico musste ein paar Worte niederschreiben. Als sie ihm dabei zusah, wusste sie, dass er den Kugelschreiber auf eine seltsame Art hielt. So hatte er nie geschrieben. Und seine E’s waren immer ohne Schnörkel gewesen, jetzt schwang er dramatische Schlaufen. Sie sagte damals nichts. Und die Polizei suchte immer noch nach der Ratte, die diese seltsame Nachricht neben Sarahs Leiche gelegt hatte. Nach der Jacke und den Handschuhen, die Nico in der Silvesternacht von jugendlichen Türken geklaut worden waren, suchten sie nicht. Sie hatte ihnen ja auch nicht gesagt, dass ihr Sohn am Neujahrsmorgen völlig durchgefroren, ohne Jacke und Handschuhe, kreidebleich und ohne ein Wort zu sagen in der Haustür stand. Am nächsten Tag hatte sie ihm Geld gegeben. Für neue Wintersachen. Und auch wenn sie für jegliche Formen der Kriminalität gar nichts übrig hatte: An diesem Abend betete sie, dass es die Gang, die ihn beklaut hatte, wirklich gab. Nachts träumte sie, dass ihre Waschmaschine zusätzlich zum Anti-Gras-Programm ein neues Programm hätte: ein Anti-Blut-Programm. Fertig in nur fünfzehn Minuten.
Der Deckenfluter tauchte das Zimmer in grelles Licht. Viktoria kniff die Augen zusammen. Noch halb blind tastete sie in ihrer Umhängetasche nach der kleinen Digi-Kamera. Das Metall des Gehäuses fühlte sich kühl an und beruhigend. Der Plan war simpel. Sie würde das Bild von Bernhard Lütkehaus abfotografieren und per E-Mail an Thomas Lüschke schicken. Er arbeitete beim LKA und vergötterte sie. Was lästig, aber großartig war. Denn so gelangte sie schon seit Jahren an Informationen, die kein anderer Kollege des Express bekommen konnte. Als Gegenleistung lud sie Thomas dreimal im Jahr zum Essen ein – auf Kosten des Express, versteht sich –, doch er lehnte immer ab. Am Anfang war sie darüber nur erleichtert, inzwischen aber fast schon verärgert. Der hässliche Vogel hätte sich gut in ihrem Licht sonnen können. Dass er es nicht tat, konnte sie nicht begreifen. Wenn sie ihn gefragt hätte, hätte er nur eine Antwort gehabt: »Ich bin ein verwachsener, pickeliger, aber sehr stolzer Mann!«
Pickel-Thomas, da war sich Viktoria sicher, würde etwas finden. Vielleicht war Lütkehaus ihr in Berlin begegnet. Vielleicht war er Zeuge eines Verbrechens gewesen, vielleicht verdächtig, vermisst. Vielleicht hatte sie sein Bild in der Zeitung gesehen, vielleicht war sie ihm bei ihren Recherchen über den Weg gelaufen. Nur so war es zu erklären, dass sie von ihm geträumt hatte. Ihr Unterbewusstsein hatte ihn abgespeichert, und ihr Bewusstsein spuckte die Daten nicht aus. Mit seinem Namen und dem Foto könnte Thomas ihr vielleicht helfen. Das Bild war viel deutlicher als das, was sie Charly gefaxt hatte. Und so gut Charly auch war, Zugriff zu internationalen
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