Schützenkönig
widerstehen. Er wusste nicht, woher es kam. Vielleicht war ja Sophia Loren schuld, deren Filme er früher immer mit seinen Eltern schauen durfte. Es gab schlimmere Vorlieben, beschloss er. Kam die Reporterin nicht aus Berlin? So wie diese andere Schlampe. Diese Totgeweihte, die ihn mit dem Arsch nicht angeschaut hatte. Arrogante Zicke. Es war kalt gewesen an dem Tag, als er sie traf, das wusste er noch. Und er hatte ihr zum Abschied noch das Biberpapier geschenkt. Aber sie? Hat nicht mal Danke gesagt, sondern einfach nur geflennt. Aber klasse Beine hatte sie und schöne schwarze Haare. Rassig.
Kai Westmark wollte die Krankenakte von Bernhard Lütkehaus gerade wieder einheften, da fiel ihm die Büroklammer am Totenschein auf. Hatte er ein Papier übersehen? Er schaute sich um, blätterte im Ordner, schob den Stuhl beiseite – und dann sah er das hauchdünne Blättchen auf dem Fußboden unter dem Schreibtisch. Er hob es auf und hielt es dicht an seine Augen. Er konnte die dünne, krakelige Schrift kaum lesen. Doch dann erkannte er ein Q und ein U und den Rest. Das aus der Akte gerutschte Papier war eine Quittung über die Barzahlung eines anonymen Urnenbegräbnisses des verstorbenen Bernhard Lütkehaus auf dem Münsteraner Zentralfriedhof. Er betrachtete die Unterschrift. Das geschwungene W hatte Kai immer nachzuahmen versucht. Er fand es schön, und es erinnerte ihn an die Luftschlangen, die er an seinen Kindergeburtstagen über den Küchentisch pusten durfte. Es bestand kein Zweifel: Westmark stand unter der Quittung. Kais Vater hatte das Begräbnis seines Patienten bezahlt.
11. Kapitel
»Na, Fräulein Latell. Gestern ein bisschen zu viel gefeiert?« Harry blinzelte verschwörerisch.
Sie nickte müde. Warum und vor allem wie sollte sie ihm auch den wahren Grund ihres blassen Teints erklären? »Hey, Harry. Ich konnte nicht schlafen, da bin ich gestern Nacht rumgeschlichen und habe mich unheimlich erschreckt, weil eine Tür geklappt hat. Und dann ist noch dieses Bild verschwunden.« Den Rest, all das, was noch passiert war, hatte sie selbst am Morgen danach noch nicht begriffen.
Zuerst war da das fehlende Bild – und der Schock gewesen, dass es fehlte. Die klappende Tür, ihre Angst – ja, so hatte es gestern angefangen. Doch als sie atemlos und mit klopfendem Herzen am Fenster stand, war ihr klar geworden, dass sie nicht mehr einschlafen könnte. Sie war zwar nervös, doch statt Angst hatte sie jetzt endlich die Gewissheit, dass sie nicht verrückt war. Es konnte kein Zufall sein, dass das Bild verschwunden war. Sie zog ihre Joggingschuhe an, die Jeans und den Trenchcoat. Der Mond leuchtete sein fahles Licht, es musste reichen, um den Weg zu finden. Wenigstens würden sie jetzt die Stechfliegen in Ruhe lassen, und wahrscheinlich schlief der große Hund längst. Sie ging schnell. Fast schon beschwingt. Denn endlich hatte sie wieder ein Ziel vor Augen. Victory, die Hartnäckige, die Smarte – sie würde handeln, nicht hadern, und sie würde auf all ihre Selbstzweifel scheißen.
Lautlos schritt sie über den Asphalt, an der Pferdewiese vorbei, auf der die Tiere jetzt im Stehen schliefen. Von der Jesus-Statue erkannte sie nur noch die Umrisse. Das Haus von Martha Lütkehaus war nicht mehr weit. Es war still. Mucksmäuschenstill. Viktoria verlangsamte ihren Schritt und machte einen weiten Bogen um den Zwinger, in dem der Rottweiler vor sich hin schnarchte. Sie stapfte auf Zehenspitzen durch das Gestrüpp neben dem Zaun, sie wollte nicht quer über den Rasen zum Bahndamm schleichen, sondern sich jenseits des Grundstücks im Schatten der Hainbuchenhecke halten. Sie war bereits am Fuße des Dammes angelangt, da hörte sie ein Zischen, das schnell lauter wurde. Ein Zug raste heran und brüllte durch die Nacht. Viktoria hielt sich die Ohren zu und duckte sich. Sie spürte den Sog und blickte den Rücklichtern nach. Dann war es wieder still. Sie kletterte auf allen vieren den Wall ein kleines Stück hoch, ihr Trenchcoat blieb an irgendetwas Dornigem hängen, sie fluchte leise und versuchte, den Stoff zu lösen. Dann blickte sie auf und sah einen Schatten. Es war ganz klar der Schatten eines Menschen. Viktoria hielt die Luft an. Dort, unter den Ästen der alten Eiche, krümmte sich ein Mann und suchte etwas.
»Hey, du hast echt ein Helfersyndrom.« Marie Latell tätschelte dem Unbekannten, der sich nicht vertreiben ließ, die Wange. Er hieß Michael und hatte ihr tatsächlich im Kiosk am Eck eine Flasche Rioja
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