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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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Luft aus dem Mund blies, beschlug die Scheibe. Sie leckte mit der Zunge daran – es schmeckte nach gar nichts. Mama sagte nicht, dass sie damit aufhören sollte, deshalb leckte sie weiter.
    Es war unerträglich heiß im Auto, doch Viktoria merkte es nicht. Sie schaute nur nach vorn. Auf die Wiese, die Straße. Sie sah wieder das Kreuz, den Jesus, dessen Fuß sie schon als Kind gestreichelt hatte. Sie bremste und rollte ganz langsam vor dem alten Haus aus, in dem einst Bernhard Lütkehaus gelebt hatte. Sie wusste nicht, was sie eigentlich hier wollte. Sie musste einfach herkommen, sie musste die Kopfbilder wieder ganz bekommen. Das Mosaik aus Vergangenheit und Gegenwart musste passen, sonst würde sie daran verrückt werden. Sie stieg aus. Der Hund schlief. Sie ging leise zur Haustür. Klopfte. Dieses Mal nur einmal. Dann ging sie weiter. Wie ein Roboter, fremdgesteuert. Bis sie vor dem Baum stand. Der Baum war tot, so tot wie Bernhard Lütkehaus, dachte sie. Sie schaute zum Bahndamm. Plötzlich spürte sie seinen Atem in ihrem schweißnassen Nacken. Sie wollte schreien, doch er packte sie am Arm, drückte ihr den Mund zu und zischte: »Psssst.« Viktoria schloss die Augen. Neue Bilder kamen.
    Sie schmeckte nichts, dabei war die Scheibe so kühl wie ein Vanilleeis. Sie hauchte wieder, und dann leckte sie. Bis sie wieder durch die Scheibe sehen konnte. Sie konnte alles sehen. Wie er da hing, wie weiß er im Gesicht war, wie er hin und her pendelte. Dann waren sie vorbei. »Mama, warum hing Bernie?« Sie suchte wieder nach der Hand der Mutter. Die hielt keine Zigarette, kein Feuer – sie war eiskalt. »Mama!« Doch Mama nahm nicht ihre kleine Hand in ihre große Hand. Sie sagte nichts. Sie schaute geradeaus. Sie war so weiß im Gesicht wie Bernie.
    Sie sagte auch später nichts. Nichts, als der Zug in Berlin ankam, nichts, als sie ausstiegen, nichts, als Viktoria nicht einschlafen konnte. Nichts, als sie nachts aufwachte, weil sie von ihm geträumt hatte. Nichts, als sie weinte, nichts, als sie schrie. Sie sagte nichts. Nie. »Pssst.« Still sein, bloß still sein und nichts fragen. Ihre Knie ließen nach. Sie spürte nur noch den festen Griff an ihrem Arm.
    »Ich bin’s.« Kais Gesicht war ganz nah an ihrem. Viktoria zitterte am ganzen Leib. »Viktoria, du siehst furchtbar aus.« Das klang nicht nach Teufel, das klang besorgt.
    Viktorias Gummibeine bekamen wieder Sehnen und Muskeln, sie riss sich von ihm los. »Verdammt, was machst du hier?«
    Er wich einen Schritt zurück, hielt sich den Finger vor die Lippen. »Leise, Viktoria!«
    Sie versuchte, leise zu sprechen, doch ihre Stimme überschlug sich fast. »Du warst das gestern Nacht, dich habe ich hier rumschleichen sehen. Und jetzt bist du wieder hier. Du machst mir Angst.«
    Er schaute sie an und sah dabei ganz und gar nicht wie einer von den Bösen aus. »Daran bist du schuld«, flüsterte er.
    »Ich?« Viktoria verstand gar nichts mehr.
    »Ich wollte dir helfen.«
    »Tolle Hilfe!«
    »Mein Vater war hier früher der Dorfarzt.«
    »Ach.« Viktoria verstand immer noch nichts.
    »Und eigentlich war jeder bei ihm Patient, der hier wohnte. Ich habe in seinen alten Unterlagen nach einem Totenschein gesucht, weil ich wissen wollte, ob Lütkehaus noch lebt oder nicht, und woran er gestorben ist.«
    Viktoria glaubte ihm noch immer nicht. Doch sie entspannte sich etwas. Kai konnte kein Meuchelmörder sein, wenn er sich hier mit ihr unterhielt. Die beiden hockten wie Diebe neben der schattigen Buchenhecke. Sie sprachen ganz leise.
    »Hast du ihn gefunden – den Totenschein?«
    Kai nickte.
    Viktoria wusste nicht, ob sie sich über die Gewissheit freuen sollte. Bernhard Lütkehaus war also wirklich tot. »Hat er sich erhängt?«
    Kai schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?«
    Viktoria wollte ihm nicht alles sagen. Noch nicht. Es war ihr Traum oder ihre Vergangenheit. Ganz allein ihr verrückter, durchgeknallter, Splatter-Horror-Trip vom Toten am Baum. »Wann und woran ist er denn laut Totenschein gestorben?«
    »Im Juni 1980 an einer Lungenentzündung.«
    »Geht das denn, der war doch noch jung damals.«
    Kai nickte, murmelte: »Verschleppt«, und erzählte von der seltsamen Quittung. »Warum hat mein Vater eine Rechnung für die Beerdigung eines Patienten bezahlt?«, fragte Kai.
    Viktoria zuckte mit den Schultern. »Frag ihn doch!«
    »Geht nicht, er ist vor ein paar Monaten gestorben.«
    »Das tut mir leid.«
    »Schon gut. Auf jeden Fall werde ich bald

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