Schützenkönig
Studienfreund Max war Rechtsmediziner, er hatte versprochen, ihm ganz formlos, unverbindlich und privat zu helfen.
»Ich soll ihm die Knochen vorbeibringen. Kommst du mit?«
Viktoria schüttelte den Kopf. »Geht nicht, ich muss noch etwas anderes klären.« Dann zog sie das Foto aus der Tasche. »Hier!«
Kai schaute sich die drei Frauen an und verstand nicht. »Das da könnte Rosa sein, und die da kenne ich nur als die freche Frida vom Getränkehandel, aber die Hübsche, die kenne ich nicht.«
»Die Hübsche sieht aus wie meine Mutter.«
Kai hustete. »Was?«
Viktoria nickte. »Harry hat mir das Foto zugesteckt.«
»Harry?«
»Ich glaube, ich sollte etwas herausfinden. Und ich habe etwas herausgefunden. Weißt du, wer das Foto gemacht hat?« Sie wartete gar nicht auf seine Antwort. »Bernhard Lütkehaus! Er und meine Mutter haben sich also gekannt.«
»Bist du denn sicher, dass das deine Mutter auf dem Foto ist?«
»Doch, nein, ich weiß nicht. Aber ich kann es einfach nicht glauben – und kapieren schon gar nicht.«
»Und jetzt?«
»Klärst du mit deinem Totendoktor, ob wir hier einen Kindermord aufgedeckt haben, und ich kläre mit meiner Mutter, was zum Teufel sie hinter dem Zapfhahn vom Gasthaus König gemacht hat.«
Viktoria ging zu dem betrunkenen Schützenbruder, der Marios Jeans trug. Dass sie in den Taschen kramte, merkte er gar nicht. Sie fand das Handy. Ich muss meinen verdammten Anbieter wechseln, dachte sie und wählte. Sie hörte nur das Freizeichen, sonst nichts. Keine Glockenspiele, keine Trommeln, nichts von den klirrenden Gläsern um sie herum – nur das Freizeichen und dann ihre Mutter.
»Latell, ja?«
Nico spürte nichts – und das fühlte sich gut an. Er zog an der Zigarette, die ihm Nele gebastelt hatte. »Da ist was drin«, hatte sie gesagt und ihn dabei angelächelt. Er sah zum ersten Mal, dass sie einen Glitzerstein in ihrem rechten Schneidezahn hatte. Er grinste und blies ihr den Rauch ins Gesicht. »Du kannst ja lächeln«, sagte sie und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss und versuchte, sich zu erinnern. Hatte Sarah auch so geküsst? Er wusste es nicht mehr. Nele spielte mit ihrer Zunge in seinem Mund. Er ließ sie. Nele spielte mit ihren Fingern an seinem Hosenbund. Er ließ sie. Die Zigarette war abgebrannt, Nico legte sie auf den Aschenbecher neben Neles Bett. Er griff nach ihren Brüsten. Sie fühlten sich gut an. Fest und rund und so lebendig. Ihre langen blonden Haare kitzelten seine Nase. Er musste fast niesen. Sie war so warm und weich, seine Hand glitt über ihren Rücken, ihren Bauch. Sie zog ihr T-Shirt aus, ihre Jeans. Sie kicherte. »Warte mal kurz.« Sie lehnte sich aus dem Bett und kramte in ihrer Nachttischschublade nach einem Kondom. Er sah ihr zu, sah ihren Nacken, die Haare, die nach vorn fielen, die Hand in ihrer Schublade. Er spürte seine Lust. Er konnte es kaum erwarten, dass sie ihm das Gummi reichen würde. Gleich würde er sie nehmen. Einfach so, von hinten. Er würde es ihr besorgen. Die Trauerzeit, sie war endlich vorbei. Sie würde schreien vor Lust, weil sie ihn liebte, nur ihn. Nicht wie Sarah, die sich einen anderen genommen hatte. Die ihm das einfach sagte, so, als ginge es ums Wetter, ganz nebenbei. »Hey, Nico, ich habe mich leider in einen anderen verguckt.« Verguckt, was für ein Mistwort war das denn? Nico konzentrierte sich wieder auf Neles schlanken Hals. Nele würde schreien, wie noch nie eine Frau geschrien hat. Sie kramte immer noch in der Schublade, ihre nackten Schultern bewegten sich. Er sah ihren zarten Nacken, die Haare, seine Hand, den Stein, das Blut. Er hörte den Schrei, diesen Laut, der so gar nichts Menschliches mehr gehabt hatte. Sarah schrie. Seine Sarah schrie um ihr Leben. Es war das Schlimmste, was er je gehört hatte. Er wollte es nicht hören. Nicht jetzt. Nicht mehr. Nie wieder.
Nico sprang auf. Er zog sich seine Schuhe an, seinen Pulli. Er sah nichts, wankte aus dem Zimmer und wusste, dass er die Ratte vernichten musste. Die Ratte hatte einen Abschiedsbrief geschrieben, die Ratte hatte Sarah getötet, die Ratte saß in seinem Kopf.
Nele drehte sich um. In ihrer Hand hielt sie ein Kondom mit Himbeergeschmack. »Nico? Was … Nico. Bist du weg?«
Endlich konnte sich Viktoria wieder konzentrieren. Sie steckte dem Schützenbruder das Handy in die Tasche zurück, er blickte nur kurz auf und ließ seinen Kopf dann wieder auf die Tischplatte sinken. Sie schaute sich um, suchte Mario. Doch vor lauter Uniformen
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