Schützenkönig
Taschentuch. Woher können Sie das?«
Viktoria zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann’s einfach.«
Wie lange hatte sie nicht mehr daran gedacht. An die Mäusearmee in ihrem Kinderzimmer. Sie hatten überall gehockt: auf ihrem Fensterbrett, in ihrem Puppenhäuschen und in ihrem Bett. Sie streichelte sie, stopfte sie unter ihr Kopfkissen und erzählte ihnen vor dem Einschlafen Geschichten von wasserspuckenden Drachen und im Feuer badenden Wassermännern. Wenn eine ihrer Zuhörerinnen zerknautscht war, fummelte sie das verknotete Taschentuch auseinander, und ihre Mutter musste es bügeln. Doch falten musste Viktoria die Mäuse selbst. Das konnte Mama nicht. Sie war stolz darauf gewesen, die kleine Tori mit den geschickten Händen! Es war ganz alleine ihr Geheimnis, das Mäuse-Faltgeheimnis. Ich kann Mäuse zaubern, hat sie damals gedacht. Ich kann Mäuse zaubern, dachte sie jetzt, als sie dem getrösteten Mädchen und seiner Mutter nachblickte. Aber wer war mein Zauberlehrer?
14. Kapitel
Tim Möcke fasste einen Entschluss. Er hatte sich die Sache gut überlegt und sich einen richtigen Plan ausgedacht. Als Mama die leere Filmdose in den Gelben Sack geworfen hatte, fischte er sie wieder heraus. Heimlich natürlich. Dann ging er in sein Zimmer. Er zog die mittlere Schublade seines blauen Schranks auf. Ganz hinten lag die kleine Kiste. »Rauchen gefährdet die Gesundheit«, stand darauf, und man sah einen Mann, der eine Zigarre rauchte. So wie Opa das immer getan hatte, als er noch lebte. Tim mochte den Geruch der Zigarre von Opa und der Kiste, die er von ihm bekommen hatte. Es war noch alles drin. Der Zauberstein, sein Detektivausweis und die kleinen Dinger, von denen er nun wusste, dass es Munition war. Echte Munition für echte Gewehre. Lina, die in der Schule hinter ihm saß und die, wenn sie kein Mädchen gewesen wäre, sein bester Freund gewesen wäre, hatte ihm geholfen. Ihr Vater war Jäger. Tiere zu erschießen interessierte ihn aber kaum, er liebte nur seine Gewehre. Er putzte sie oft und benutzte sie wenig. Lina fand das gut, weil sie Tiere mochte. Tim fand das blöd, weil Schießen doch bestimmt Spaß machte. Zum Glück war Linas Vater ein etwas zerstreuter Mann, und er wunderte sich gar nicht, als Lina ihm die Kugeln zeigte. Sie behauptete einfach, sie habe die Dinger in seinem Keller gefunden und wollte nun ganz genau wissen, was das ist. Ihr Vater schüttelte daraufhin den Kopf und schwor sich, ordentlicher mit Waffen und Munition umzugehen. Gleichzeitig dankte er Gott, dass seine Tochter so ein vernünftiges, ehrliches Mädchen war. »Nun sag schon, Papa. Was sind das für Patronen?« Mit seinem geübten Auge und seiner Erfahrung erkannte er das Schrot-Kaliber 12/70 und die Munition für eine Kugelwaffe vom Kaliber 7 x 64. Lina schrieb die seltsamen Zahlen auf ihren Prinzessin-Lillifee-Block und präsentierte Tim den rosa Zettel am nächsten Schultag. Am Nachmittag hockten die beiden dann über einem mächtig dicken Waffenkatalog von Linas Vater. Lina hatte ihn vom Coachtisch genommen und mit in ihr Zimmer geschmuggelt. Jetzt verglichen sie den rosa Zettel von Lina mit einem Artikel aus den Telgter Nachrichten . Tim hatte ihn am Tag zuvor ausgerissen. Es war eine kleine Meldung gewesen.
Untersuchungen eingestellt: Die Polizei stellt die Ermittlungen gegen Elisabeth U., die eine Schützenversammlung mit zwei Jagdgewehren bedroht hatte und dann bewusstlos zusammengebrochen war, wegen versuchten mehrfachen Mordes ein. Die Doppelflinte der Marke Merkel 202 und die Büchse der Marke Sauer 80 waren nicht geladen, so der Pressesprecher der Polizei Warendorf. Es sei auch keine Munition bei der Beschuldigten gefunden worden. Zu keiner Zeit habe also tatsächlich eine Gefahr bestanden, heißt es in der Pressemitteilung. Ihr Mann musste eine Geldstrafe in Höhe von zweihundert Euro bezahlen, so die Polizei weiter. Dass der Schlüssel für seinen Waffenschrank für die Frau zugänglich gewesen wäre, sei eine Ordnungswidrigkeit. Die Gewehre wurden ihm jetzt zurückgegeben. Elisabeth U. muss mit einer Strafe wegen Nötigung und Erregung öffentlichen Ärgernisses rechnen.
Tim Möcke hatte Sauer 80 und Merkel 202 mit seinem roten Filzstift eingekreist.
Plötzlich quietschte Lina: »Da, Tim, da!« Im Waffenkatalog stand, welche Munition zu den Waffen gehörte.
Tim hielt die Luft an: Die kleinen Bleidinger, die er am Tag nach der aufregenden Nacht neben dem Gullydeckel vor seinem Haus gefunden
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