Schützenkönig
seine Praxis übernehmen …«
»Du bist gar kein Installateur?«
Kai musste lachen. »Seh ich so aus?«
»Ja. Aber jetzt weiter. Du wirst also die Praxis übernehmen …«
»Und deshalb lagert der ganze Krempel, also seine ganzen Akten, dort. Man muss Krankenakten eigentlich nur zehn Jahre aufbewahren, doch wenn man auf Nummer sicher gehen will, behält man sie dreißig Jahre. Erst dann verfallen nämlich Rechtsansprüche wegen Ärztepfusch und solchen Sachen. Und mein Vater war so ein superkorrekter Mensch, so ein hundertprozentiger, der alles aufbewahrte und immer auf Nummer sicher ging. Ich wollte die Akten eigentlich entsorgen, doch dann kamst du mit deinen komischen Verdächtigungen.«
»Aber dir kommt doch jetzt auch einiges komisch vor, oder?«
Kai seufzte. »Ich habe noch etwas Seltsames gefunden. In der Krankenakte von Martha Lütkehaus.«
Viktoria saß kerzengerade, sie hatte das Gefühl, ihre Ohren hörten besser als sonst, so neugierig war sie. »Erzähl schon, was stand in ihrer Krankenakte?«
»Das fällt unter ärztliche Schweigepflicht. Ich darf es dir nicht sagen.«
Viktoria stöhnte auf: »Ich fass es nicht! Jetzt stell dich doch nicht so an! Raus damit.«
Doch Kai wollte nicht.
»Scheißmoralist«, sagte Viktoria und half ihm. »Pass auf, Kai. Kann es sein, dass du dort etwas gefunden hast, was dich glauben lässt, dass hier in diesem Garten etwas Schlimmes passiert ist? Vielleicht ist hier ein Mann gestorben, und dieser Mann könnte Bernhard Lütkehaus sein, den alle hier für ausgewandert oder durchgebrannt halten, den dein Vater für lungenkrank erklärt hat – und der laut einer rätselhaften Quittung eigentlich in einem anonymen Grab liegen müsste?« Atemlos wartete sie auf seine Antwort.
Er antwortete langsam: »Ich glaube, dass hier irgendetwas ist. Oder war.«
Nachdem Kai in der Praxis seines Vaters die Quittung über die Bestattung gefunden hatte, hatte er sich die Krankenakte von Martha Lütkehaus genauer angeschaut. Er wollte einfach mehr wissen, wollte sichergehen, dass alles in Ordnung war. So hatte er die spitze Schrift seines Vaters Wort für Wort entziffert und die traurige Geschichte der Frau rekonstruiert. Martha Lütkehaus hatte viel ertragen müssen. Drei Fehlgeburten, in den Jahren 1971, 1974, 1976, die letzte hatte sie zu Hause erlitten und den Arzt erst sehr spät gerufen. Dabei wäre sie beinahe gestorben, der Blutverlust war enorm gewesen. Dann stieß er auf einen Eintrag aus dem Jahre 1980. Mit seiner spitzen Schrift hatte der Vater eingetragen: »15. Juni, M. Lütkehaus leidet unter Schlaflosigkeit und Wahnvorstellungen – spricht wiederholt von Grab unter Eiche in ihrem Garten, sagt immer wieder: ›Er will nicht schlafen, er will weg.‹ Empfehle Behandlung mit leichtem Schlafmittel und Baldrian.« »Depression« stand dort mit einem Fragezeichen. Das alles war schon seltsam genug. Doch noch seltsamer war das Datum der letzten Eintragung. Martha Lütkehaus hatte mit ihrem Hausarzt am 13. Juni 1980 über ein Grab in ihrem Garten gesprochen. Zwei Tage später starb ihr Mann laut Totenschein.
Viktoria wusste, dass es vorerst nicht mehr Antworten von Kai geben würde. Also wollte sie handeln. »Okay, Dr. Kai. Dann halte dich mal an dein bescheuertes Schweigegelübde und lass uns einen auf Totengräber machen.« Sie klang mutiger, als sie sich fühlte.
»Jetzt? Am helllichten Tag?«
Kai gefiel die Idee ganz und gar nicht. »Klar, da sehen wir doch besser«, Viktoria blinzelte ihm zu.
Der Hundezwinger und das Haus von Martha Lütkehaus lagen gut sechzig Meter von diesem Teil des Gartens entfernt. Sie schauten sich um. Unter der Eiche war weicher Rasen, nichts, was auch nur im Entferntesten wie ein Grab aussah. Aber nach dreißig Jahren konnte über alles Gras wachsen, Viktoria musste beinahe lächeln. Etwa fünf Meter rechts begann der Gemüsegarten. Viktoria erkannte Tomatenranken, ein paar Salatköpfe. Sie gingen um den Baum herum. Da, hinter dem Baum wucherten ein paar Pflanzen mit großen Blättern, der Gewitterregen von vorgestern hatte sie platt gedrückt, sie bedeckten eine ein mal zwei Meter große Fläche.
»Was ist das?«, fragte Viktoria. »Auch Salat?«
Kai schüttelte den Kopf. »Frauenmantel.«
Nachdem sich Elisabeth Upphoff an diesem Morgen auf die Waage gestellt hatte, dachte sie über eine Alternative nach. Wenn sie weiterhin so viel abnehmen würde, würde sie in einem Jahr nicht mehr vorhanden sein. Null Kilo! Nicht mal beerdigen
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