Schulaufgaben
nicht vereinheitlicht. Heute, im Jahr 2012, können wir nicht genau sagen, wie viele Kinder mit »Lernbehinderung« es in den einzelnen Bundesländern gibt. Die Diagnoseverfahren sind in jedem Land anders, sodass der Anteil der als lernbehindert eingestuften Kinder extrem unterschiedlich ist. Darüber hinaus legen die Bundesländer nach jeweils eigenen Kriterien fest, welchen Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf zusteht, wer also als »Integrationsschüler« gilt und wer nicht. Ähnlich sieht es im Ganztagsschulsystem aus. Was hier eine Mittagsbetreuung ist, die frei gestaltet werden kann, ist dort Teil eines didaktischen Lehrplans, der diese Zeit zum systematischen Aufbau kognitiver oder sozialer Kompetenzen nutzt. In dem einen Bundesland zählen beide Betreuungsformen zu den Ganztagsschulen, in dem anderen wird die Mittagsbetreuung nicht als Ganztagsbestandteil gesehen. Auf dieser statistischen Grundlage sind empirische Untersuchungen recht problematisch. Ebenso stellt sich die Situation beim sogenannten Übergangssystem dar, das in jedem Bundesland anders geregelt ist und andere Angebote bereithält.
Der moderne Wohlfahrtsstaat braucht eine gesamtstaatliche Bildungsplanung
Vergegenwärtigen wir uns Georg Pichts eindringliches Plädoyer für eine Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildungsplanung: »[…] Planungskompetenz und Gesetzgebungskompetenz«, so schrieb er 1964 in seinem Buch Die Deutsche Bildungskatastrophe , »[liegen] in einem föderalistischen Staat ihrem Wesen nach auf zwei verschiedenen Ebenen, [die] nicht in einen Topf geworfen werden können. Planung ist nur im gesamtstaatlichen Rahmen möglich; unser ganzer Staat würde auseinanderbrechen, wenn jedes Land machen könnte, was es will, ohne sich um seine Nachbarn weiter zu kümmern. Die Planung kann aber auch deshalb nicht ausschließlich Sache der einzelnen Länder sein, weil die Schulen und Hochschulen nicht nur den Bedarf der einzelnen Länder zu decken haben, sondern auch jenen großen Gesamtinteressen dienen müssen, die von der Bundesregierung wahrgenommen werden.« 4
Niemand kann bestreiten, dass die Schulpolitik ganz zentrale gesamtstaatliche Interessen berührt. Die individuelle und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Bildung ist enorm. Die Lebens- und Teilhabechancen von Menschen sind, zumal bei uns, eng an den Schul- und Bildungserfolg gebunden. Vom Bildungsniveau der Gesellschaft hängt wesentlich die wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands ab. Deshalb darf die Schulpolitik nicht mehr vornehmlich dem Bereich der »Kulturpolitik« zugeordnet werden, für deren Gestaltung ausschließlich die Länder zuständig sind. Bildungspolitik ist nicht »nur« Kulturpolitik. Bildungspolitik ist eine Querschnittaufgabe, die fast alle Politikbereiche, insbesondere aber die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik berührt. Wenn das Schulsystem hinter die gesellschaftlichen Anforderungen der Arbeitswelt zurückfällt,
entstehen enorme gesamtgesellschaftliche Folgekosten, wirtschaftlicher und sozialer Art. Diese tragen die Betroffenen, aber auch die Länder und in noch höherem Maße der Bund. 5 Umgekehrt fließen die Erträge, die sich aus den Bildungsinvestitionen ergeben, vor allem dem Bund zu. 6 Von daher stärkt eine ambitionierte Bildungspolitik langfristig und nachhaltig die finanziellen Handlungsspielräume des Bundes und damit auch seine politische Handlungsfähigkeit. Ein moderner Wohlfahrtsstaat sollte voneinander abhängige Politikbereiche nicht durch eine föderale Kompetenzverteilung verfassungsrechtlich gegeneinander abschotten. Ein moderner und leistungsfähiger Wohlfahrtsstaat braucht eine Bildungspolitik aus einem Guss.
Der deutsche Bildungsföderalismus verstößt gegen das Gebot gleichwertiger Lebensverhältnisse
In Deutschland gibt es verschiedene »Typen von Bildungssystemen«, die in jedem Land anders ausgeprägt sind. 7 Daher hängen die Bildungschancen und damit die Lebens- und Teilhabechancen junger Menschen ganz erheblich davon ab, in welchem Bundesland sie zur Schule gehen. Dieser Zustand widerspricht eindeutig dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse , der im Grundgesetz verankert ist und seit 1949 zu den fundamentalen Leitprinzipien des föderativen Bundesstaates gehört. Doch auch mit internationalen Abkommen ist diese Situation nicht vereinbar, etwa mit unseren Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten
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