Schulaufgaben
Zeit und vielen Tassen Tee frage ich ihn nach seiner Lehre. »Ach, weißt du, die Lehre läuft eigentlich ganz gut. Sie macht mich nur nicht mehr so richtig an. Nächstes Jahr bin ich fertig«, antwortet er nüchtern und etwas distanziert. Aus dem kleinen lernbegierigen Tüftler ist ein junger Mann geworden, den Wissen nicht mehr so interessiert. Das überrascht mich. Sicher, Erkan zählt zu jenen jungen Leuten, die trotz einer eher ungünstigen Ausgangslage ihr Leben meistern. Seine Eltern sind
finanziell nicht besonders gut gestellt, beide haben eine niedrige Bildung und keine Ausbildung, so wie viele Eltern von Migrantenkindern. Erkan hat die mittlere Reife bestanden und eine gute Lehrstelle gefunden. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit, würde man bei ihm sagen. Das schaffen nicht viele. Erkan wusste früh, was er will. Das Abitur, ein Studium, Reisen, raus aus der Stadt. Ich war mir sicher, dass ihm das gelingen wird. Wäre er in einem Elternhaus wie dem von Alex aufgewachsen, hätte er diese Pläne auch verwirklichen können, und zwar problemlos – ganz ohne ermutigende Schubser.
Mit Jenny zu reden fiel mir in diesem Sommer schwer. Sie erzählt von ihrem Vater, den sie erst vor Kurzem kennengelernt hat, von dessen Leben und Familie, und wie anders das alles sei: Ihre Halbgeschwister würden reiten, seien gut in der Schule, und alle wohnten in einem schönen Haus mit Garten. »Mein Vater schreibt immer auf Facebook, wie toll seine Kinder sind. Jedes Zeugnis stellt er ins Netz. Er freut sich riesig.« Voller Unverständnis berichtet sie, wie wenig ihr Vater sie verstehe: »Er will, dass ich täglich zwanzig Bewerbungen schreibe. Er findet mich zu lasch, er meint, mir fehlt der Antrieb. Über meine Mutter redet er nicht, aber ich weiß, er denkt, sie ist einfach nur faul, eine Sozialschmarotzerin eben. Er hat ja keine Ahnung, was bei uns los ist und wie es uns geht. Wir würden doch auch gerne arbeiten und anders leben. Aber meine Mutter hat doch keine Chance. Sie war so lange draußen.« Nach vielen Jahren prallen die Welten von Tochter und Vater aufeinander. Große Emotionen, Hoffnungen und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Jenny versteht nicht, wie leistungsorientierte Menschen denken und handeln. Ihr Vater sieht eine Tochter, die nichts aus sich macht: »Wenn Jenny bei mir aufgewachsen wäre, würde sie heute studieren«, sagt er. »Die ist nicht dümmer als meine anderen Kinder.« Und er fügt hinzu: »Dass ich so was mal sage, hätte ich auch nicht
gedacht.« Ich sitze Jenny gegenüber, meine Hände sind leer. Mädchen, denke ich, das ist verdammt bitter. Wir alle haben an kritischen Stellen viel zu lange weggeschaut. Das Ganze war absehbar, und trotzdem haben wir nicht rechtzeitig geholfen.
Ich weiß aber auch: Mit großer Anstrengung, mit viel Hilfe, Anerkennung, Mut und Vertrauen, kann es jetzt noch klappen. 1
Laura besucht mich mit ihren Eltern. Sie ist äußerlich das Gegenstück zu Jenny. Keine auffallenden Piercings im Ohr, keine Tattoos an den Armen, keine flippige Kleidung. Laura ist blond, hellhäutig, fast blass und schaut mich mit offenem Gesicht freundlich an. Sie ist eine auffallend schöne junge Frau. Sie besucht in der Berufsschule einen Schnupperkurs. »Gehst du gern in deine Schule?«, frage ich. »Ja, da ist es schön. Ich mag die Lehrer, und alle sind nett.« Die Sätze kommen langsam. Die Eltern schauen sich gerührt an. Es ist selten, dass Laura über sich spricht. Man weiß oft nicht, was ihr gefällt und was nicht. Was sie will, kann sie nicht formulieren. »Und nach dem Schnupperkurs? Willst du in der Hauswirtschaft bleiben?« , frage ich. Der Vater antwortet: »Wir suchen eine Ausbildungsstelle.« »Ja«, fügt Laura hinzu. Dann spricht man über dieses und jenes. Ich erfahre nicht, was eigentlich Sache ist. Die Eltern wollen nicht reden. Und wissen es selbst noch nicht. Über die Zeit sind ihnen wie ihrer Tochter auch viele Kontakte verloren gegangen. Wie immer, wenn ich Laura und ihre Eltern treffe, wird mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass wir auf Menschen mit Benachteiligungen und auf ihre Familien zugehen und sie in die Mitte der Gesellschaft holen müssen.
Die Biografien der vier Jugendlichen zeigen, wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden. Die Geschichte von Alex unterstreicht, dass Kinder Zeit und Vertrauen brauchen. Nicht alle rennen gleich von
allein und schnell los. Unser Schulsystem muss also Zeit geben,
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