Schulaufgaben
gesellschaftlichen Einstiegsleitern finden, wenn man sie so früh organisatorisch trennt?
Den Umgang mit Vielfalt nicht erlernen zu können und das Menschenrecht auf inklusives Lernen zu verweigern, das sind die zentralen Probleme unseres Schulsystems. Weitere kommen hinzu und sind aufs Engste damit verbunden: Die starke Prägung der Bildungschancen durch das Elternhaus führt zu Chancenungleichheit. Der fehlende Ausgleich für diese Benachteiligungen und unterschiedliche Entwicklungsmilieus verstärken die Unterschiede in den Leistungen weiter.
Unser Schulsystem lässt zu viele zurück und schafft einen hohen Sockel von Bildungsarmen. Wir nutzen nicht unsere Potenziale. Und wir vernachlässigen sogar die Exzellenz.
Wir müssen also Strukturen verändern. Wir müssen die Kinder länger gemeinsam lernen lassen, mindestens bis zum Alter von vierzehn, besser bis zum Alter von sechzehn Jahren, wie es in vielen Ländern bereits erfolgreich praktiziert wird.
Wir werden dadurch niemanden verlieren, aber viele gewinnen. Und unsere Potenziale heben. Das heißt auch: Wir müssen die Systemfrage nochmals stellen.
3. Schneller ist nicht besser: Mehr Zeit zum Lernen
Meine Großmutter wurde 1900 geboren, meine Mutter 1930 und meine Schwester 1960. Die Lebenserwartung der Generation meiner Großmutter betrug 53 Jahre, die der Generation meiner Mutter 72 Jahre, meine Schwester kann auf 81 Jahre hoffen. Angesichts unserer steigenden Lebenserwartung bei guter Gesundheit verkürzen wir den Anteil von Bildung an unserem Leben stetig. Alle Frauen beendeten die Schule mit neunzehn Jahren. Die Zeit für Bildung gemessen an der Lebenserwartung ging im Laufe der Jahre immer weiter von 25 Prozent auf 18 Prozent und schließlich auf 16 Prozent zurück. Würde meine Enkelin 2020 geboren, so läge aus heutiger Sicht der Anteil ihrer Bildungszeit an ihrer Lebensspanne noch viel niedriger. Obgleich die Menschen immer älter werden, haben wir die Gymnasialzeit um ein Jahr verringert, die Studiendauer durch die Bachelor- und Masterstudiengänge verkürzt. Insgesamt wird die Zeit für Bildung im Leben also weiter sinken. Kitas, Kindergärten und Ganztagsschulen fangen den Verlust nicht auf. Weiterbildung wird nur schleppend ausgebaut. Über Umschulungen im positiven Wortsinn wird viel zu wenig nachgedacht. Innovation kann nicht mehr über den Austausch der Köpfe erfolgen, davon haben wir zu wenige. Wir gehen den falschen Weg.
Stattdessen müssen wir Kindern, Eltern und Lehrern mehr Bildungszeit geben. Wir brauchen rascher als geplant mehr und qualitativ gute Kinderhorte, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Das G8 für alle Gymnasiasten ist nicht
zielführend. Wir brauchen eine Zweit- und Drittausbildung. Wir brauchen die Jahre im Ausland, die aufgrund von G8 zurückgehen. Um Bildung überhaupt in Erwerbsarbeit übersetzen zu können, brauchen wir auch den Mut, unsere Erwerbsverläufe zu unterbrechen und langsamer zu treten. Eine geringere Arbeitszeit heute erhöht die insgesamt möglichen Jahre in Erwerbsarbeit. Man kann auf die eigene Gesundheit besser achten und die eigenen Qualifikationen weiterentwickeln. Nicht umsonst ist Nachhaltigkeit und ein schonender Umgang mit Ressourcen eines der vordringlichen Ziele guter finnischer Bildungsarbeit.
4. Eine Bildungsrepublik braucht Kreativität: Mehr Autonomie für unsere Schulen
Im letzten Jahr durfte ich mit einer Delegation der nordrheinwestfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nach Kanada reisen, um das dortige Schulsystem von innen kennenzulernen. Kanada, ein föderaler Staat, hat ein sehr leistungsfähiges Bildungssystem aufgebaut. Uns allen fiel sofort auf, wie gut vernetzt jede Schule ist, wie sehr man darauf achtet, dass das Umfeld stimmt. Auffällig war auch, wie entgegenkommend sich die Schulen gegenüber ihren Schülern zeigen. Jede Schule arbeitet nach einem eigenen Plan, der passgenau auf die soziale und regionale Situation der Schülerinnen und Schüler abgestimmt ist. Zum Plan gehört auch, welche Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter, Mentoren und ehrenamtlichen Helfer ausgewählt werden. Er legt fest, welches Unterrichtsmaterial verwendet wird, wie die Unterrichtsstunden zugeschnitten sind, wie lange der Unterricht dauert, und beschreibt die Ferienangebote, die Elternarbeit und die Schularchitektur. Die Schulen sind für die Schüler da, das ist hier das höchste Prinzip. Viele dieser Gestaltungsmöglichkeiten nutzen auch deutsche
Schulen bereits. Dieses
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