Schuld währt ewig
angewöhnt, die Dühnfort von seinen Mitarbeitern erwartete. Einmal etwas zu übersehen und so einen Mörder ungeschoren davonkommen zu lassen, war seine größte Sorge. Sie war die Kraft, die ihn antrieb, sich für Gerechtigkeit, Strafe und Sühne einzusetzen. Es ging um Schicksale, um Menschen, und nicht um Fälle, die man abhakte.
Gina blätterte in ihrem Block. »Wer weiß. Vielleicht lässt sich das ganz einfach klären. Mit etwas Glück gibt es Fotos vom Unfall.«
»Fotos?« Alois gab seine angespannte Haltung auf und lehnte sich im Stuhl zurück.
»Wer hat sie gemacht?« Auch Dühnfort war überrascht.
»Einer der Anwohner hat ein Hobby. Nicht umsonst nennen ihn seine Nachbarn Knöllchen-Eugen . Eugen Voigt, 59, Verwaltungsangestellter im Frühruhestand, wohnt in einer Erdgeschosswohnung direkt an der Unfallstelle. Er verfügt über eine Profi-Fotoausrüstung und viel Zeit. Und die nutzt er, um Sheriff zu spielen. Er fotografiert die Anwohner beim Falschparken und zeigt sie an. Leider war er gestern Abend nicht da, als die Kollegen die Nachbarschaftsbefragung durchgeführt haben. Ich habe aber die Hoffnung, dass das zum Zeitpunkt des Unfalls nicht so war. Wenn wir Glück haben, hat er ihn fotografiert.«
7
Erst mittags ließ Herr Kater sich wieder blicken und begehrte Einlass. Sanne ging mit ihm in die Küche. Für ihn gab es verdünnten Joghurt und für sich schob sie den Rest Lasagne von gestern in die Mikrowelle. Dabei sah sie aus dem Fenster. Der Möbelwagen stand noch vor dem Nachbarhaus und wurde von zwei Männern entladen. Von Hamlet war weit und breit nichts zu sehen, ebenso von Domegall. Ein merkwürdiger Mann. Irgendwie unheimlich. Und ausgerechnet er war nun ihr neuer Nachbar. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich nicht wohl.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Domegall war doch da. Er stand vor ihrem Haus und betrachtete den Porsche eingehend von allen Seiten. Wie kam er dazu! Sie wollte, dass er ging. Doch sie traute sich nicht, das Fenster zu öffnen und ihm zuzurufen, er solle verschwinden.
Der Porsche. Ihre Rennsemmel, ihr Adrenalinkick. Er war das Einzige, das von ihrem alten Leben und von der alten Sanne geblieben war.
Im Sommer ihrer Geburt, vor 28 Jahren, hatte ihr Vater den Wagen gekauft, und 19 Jahre später, zum bestandenen Abi, hatte er ihn ihr geschenkt. Allerdings war er noch immer auf seine Firma zugelassen. Und das hatte zur Folge, dass die Knöllchen bei ihm landeten, wenn sie wieder einmal geblitzt worden war. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das aktuelle bei ihm aufschlug. Vor drei Wochen war sie in eine Radarfalle gerast. So richtig gerast. Das würde teuer werden.
Manchmal brauchte sie das eben. Wenn sie nicht schlafen konnte, wenn sie nicht denken wollte. Dann stieg sie in den Porsche, gab Gas, jagte über die Autobahn, bis Adrenalin jede Zelle ihres Körpers flutete und alle Gedanken an Ludwig vertrieb.
Ihr Mittagessen war warm. Sie setzte sich an den wackligen Tisch, den sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Vielleicht sollte sie sich doch mal richtige Möbel zulegen. Geld hatte sie genug. Sie gab ja so gut wie nichts von dem aus, was sie verdiente. Miete, Strom, Wasser, Briketts für die Öfen, ein paar Lebensmittel und ab und zu eine Tankfüllung.
Schöne Klamotten, neue Möbel, Reisen, Kino, Theater, all das reizte sie nicht. Vielleicht hatte Thorsten ja recht und sie erlaubte sich nichts davon. Sein Vorwurf, sie würde sich nicht gestatten, glücklich zu sein, war nicht so ganz von der Hand zu weisen. Wobei neue Möbel und schöne Kleidung nichts mit Glücklichsein zu tun hatten. Eher mit Zufriedenheit. Doch wie konnte sie es sich behaglich und schön machen, während Ludwig … Es klang so albern, wenn sie das in Worte zu fassen versuchte. Doch dieses Gefühl ging tiefer als Worte. Viel tiefer. Schuld und Reue. Scham und Demut. Ein brennendes Gefühl von Versagen brannte seit Jahren in ihrem Innersten. Hätte sie doch nur besser aufgepasst. Wenn sie noch eine Geschichte vorgelesen hätte, oder …
Das Klingeln des Telefons riss Sanne aus ihren Gedanken. Sie war dankbar dafür. Die Lasagne war kalt geworden. Sie schob den Teller weg und ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand.
Ihr Vater meldete sich. »Diesmal hast du es aber übertrieben, Sanne.«
Sie ahnte, was er meinte. Der Bußgeldbescheid war gekommen. »So schlimm?«
»Beinahe zweihundert, in einem Abschnitt, in dem man hundertdreißig fahren darf. Sechshundert Euro Strafe, vier
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