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Schuld währt ewig

Schuld währt ewig

Titel: Schuld währt ewig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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    Irgendwann waren die Brote gegessen, ein Latte macchiato getrunken, und Uli musste zurück ins Büro. Auch für Sanne war es Zeit heimzufahren.
    Als sie nach Hause kam, leerte sie den Briefkasten, fütterte Herrn Kater, hängte die Wäsche auf, die sie am Morgen in die Maschine gestopft hatte, und sah sich dann die Post an.
    Jede Menge Reklame, ein Brief ihrer Bank und eine Einladung zur Messe in Frankfurt nächstes Jahr. Eine Postkarte mit einem merkwürdigen Motiv. Ein Blick aus einigen Metern Höhe in einen Hinterhof mit verlassenen Parkplätzen. Laub bedeckte den Asphalt. Dort, wo der Wind Flächen freigefegt hatte, blitzten die weißen Begrenzungslinien hervor. Eine rotweiße Schranke blockierte die Zufahrt. Ein umgefallener Müllcontainer lag vor einer Hainbuchenhecke, deren vertrocknete Blätter sich an die Äste klammerten, als könnten sie so ihr Ende verhindern.
    Sanne schüttelte den Kopf und drehte die Karte um. Kein Absender. Nur zwei Zeilen Text.
    Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
    der Übel größtes aber ist die Schuld.
    Ein Schauer durchlief sie. Wer hatte ihr denn diese Karte geschickt?
    Evelyn. Natürlich Evelyn.
    Zwei Jahre hatte sie Ruhe gegeben. Doch jetzt war es wieder so weit. Ludwigs Todestag wühlte Verzweiflung, Hass und Wut wieder in ihr auf. Sanne verstand ja, warum sie ihr die Schuld gab. Aber konnte sie nicht endlich damit aufhören?
    Die scheinbare Normalität des Tages verschwand in einem Strudel aus Gefühlen wie Wasser im Ausguss. Sanne ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und starrte auf die Kiefernholzplatte des Tischs.
    Wenn sie doch nur besser aufgepasst hätte! Wenn sie Ludwig noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen oder mit ihm noch etwas gespielt hätte … Er wäre noch am Leben.
    Wenn! Wenn! Wenn! Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, auch wenn sie noch so verzweifelt wünschte, es zu können.
    Doch sie war nicht schuld. Trotz Evelyns Anschuldigungen und Lügen war das Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Sanne hatte weder schuldhaft noch fahrlässig gehandelt. Das war von Polizei und Staatsanwaltschaft festgestellt worden.
    Wenn sie doch nur wüsste, was in diesen Sekunden geschehen war, die sich weigerten, in ihrer Erinnerung Form anzunehmen. Sicher hatte sie getan, was sie immer getan hatte. Ludwig zugedeckt, herumliegendes Spielzeug aufgeräumt und dann das Licht ausgemacht, bevor sie das Zimmer verließ. In ihrer Erinnerung lag ihre Hand auf der Türklinke, als das Unglück auf der anderen Seite des Raums geschah.
    Wie so oft, wenn sie bei dieser Überlegung angelangt war, stieg Furcht in ihr auf. Warum war dieses Bild für sie so wichtig? Weshalb klammerte sie sich daran?
    Ihre Hand auf der Türklinke.
    Mit den Händen massierte Sanne ihre Schläfen, bohrte die Finger in die Haut, vertrieb alle Überlegungen.
    Niemand war schuld. Es war ein schrecklicher Unfall gewesen. Eine Katastrophe. Ein Schicksalsschlag. Doch das konnte Evelyn nicht akzeptieren. Sie brauchte einen Schuldigen, einen Adressaten für ihren Zorn, ihre Ohnmacht, ihre Wut und Verzweiflung. Für ihr Leid. Und das war nun mal sie.

25
    In der oberen Etage der Doppelhaushälfte in München-Waldperlach brannte Licht. Alois parkte seinen Mini und stieg aus. Ein Bewegungsmelder schaltete die Beleuchtung über der Haustür ein. Zwei Klingelschilder befanden sich an den Briefkästen. Franziska Meinhardt und darunter Martin Meinhardt. Alois klingelte oben.
    Beinahe acht Uhr. Höchste Zeit, ein Häkchen hinter dieses Gespräch zu machen. Lange würde er sich nicht aufhalten. Fünf Minuten und dann reichte es.
    Der Summer ertönte, und Alois öffnete das Gartentürchen. In der unteren Etage ging Licht an. Die Haustür wurde geöffnet.
    Er hatte sich keinerlei Gedanken gemacht, wie Lenas Mutter wohl aussehen könnte, seit er vor einer halben Stunde seinen Besuch telefonisch angekündigt hatte. Bis vor einer Sekunde war sie für ihn ein gesichtsloser Name am Rande einer Ermittlung gewesen.
    Bei seiner Oma, einer Bäuerin in einem Dorf bei Regensburg, stand in der guten Stube, die nur an Ostern und Weihnachten genutzt wurde, eine aus Lindenholz geschnitzte, bunt bemalt Pieta. Der Schmerz und die Trauer, die als immerwährende Schatten über dem Gesicht Marias lagen, hatten ihn schon als Kind in Bann geschlagen.
    Und nun erging es ihm ebenso. Ein Ausdruck anhaltenden Leids prägte das Gesicht von Lenas Mutter und verlieh ihm eine entrückte Schönheit.
    Schulterlange braune Haare, groß,

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