Schuld währt ewig
akzeptieren wollte und Flade mehrfach anrief. Dann lagen irgendwann die Gutachten vor, waren alle Zeugen befragt und klar, dass Flade nichts vorzuwerfen war. »Martin hat weiter nach einem Schuldigen gesucht. Das ist ja auch menschlich. Ein Kind kann doch nicht einfach so sterben und niemand wird zur Rechenschaft gezogen.« Aus dem Weinkühler, der auf dem Boden stand, zog sie die Flasche und schenkte das Glas voll. »Mögen Sie auch?«
Alois lehnte ab. Er war im Dienst. Und er hatte eine Vermutung, welche Tragödie sich in diesem Haus abspielte. Es war wesentlich leichter, jemanden verantwortlich zu machen, ihn mit Vorwürfen zu quälen und zu bestrafen, als das Schicksal als willkürlich zu akzeptieren und sein Päckchen zu tragen. Die Rolle der Schuldigen hatte Martin Meinhardt seiner Frau zugewiesen. Er hatte keinen Grund, Rache an Flade zu üben. Er nahm sie schon seit Jahren an seiner Frau.
Alois stand auf. Sein Job hier war erledigt. Weit und breit kein Mordmotiv in Sicht. Auch Franziska Meinhardt erhob sich. Sie schwankte kaum merklich. »Ich bringe Sie zur Tür.« Sie stand dicht vor ihm. Leichter Weingeruch vermischt mit dem Duft eines schweren Parfums. Ein schön geformter Mund, ein wenig geöffnet.
Von unten klang wieder das helle Lachen herauf. »Das dauert jetzt noch zehn Minuten, dann bumst er sie. Bevorzugt in der Küche. Damit ich es auch mitkriege.« Ihre Zunge hinterließ einen feuchten Schimmer auf den Lippen. Franziska Meinhardt suchte seinen Blick. Die Botschaft war klar. Unwillkürlich tastete Alois nach den Kondomen in der Sakkotasche. Ein verlockendes Angebot. Eine prickelnde Erwartung stieg in ihm auf. Doch sie verschwand ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, wehte davon wie ein welkes Blatt im Herbstwind. Er wollte nicht. Erstaunlich. Ein fragendes Vakuum, dann die Erkenntnis: Er hatte keine Lust auf dieses Abenteuer und vielleicht auch nicht auf das nächste, das sich bieten würde. Irgendwie hatte er es satt, Kerben in seine Bettpfosten zu schnitzen. Es war gut.
26
Der Mordfall Oberdieck steckte nach 36 Stunden fest. Die Befragung von Freunden, Verwandten, Nachbarn, Kommilitonen und Dozenten hatte zu nichts geführt. Steffis Eltern waren tatsächlich in den USA . Und auch der Exfreund Patrick schied aus. Er hatte sich von Tina getrennt, und außerdem war er beim Fußballtraining gewesen. Dafür gab es mehr als ein Dutzend Zeugen.
Die Spurenlage bot ebenfalls keinen Anlass zur Freude. Einige Fasern an Tinas Kleidung, die vermutlich vom Täter stammten. Schwarz, Schurwolle. Solange kein Referenzkleidungsstück vorlag, nützte dies nichts. DNA -Spuren gab es etliche. Tina war den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatte mit zahlreichen Personen Kontakt gehabt. Interessant waren die DNA -Anhaftungen an ihrer Strickmütze. Der Täter musste sie berührt haben, als er Tinas Kopf unter Wasser drückte. Doch auch die Spuren an der Mütze waren zahlreich. Nur in einem zeitaufwendigen Ausschlussverfahren war es möglich, die Spur zu isolieren, die mutmaßlich vom Täter stammte. Dafür brauchten sie Referenzproben von allen Personen, denen Tina an jenem Tag begegnet war, und wenn sie Pech hatten, war zwar die des Täters darunter, seine Spur aber erklärbar.
Kurz nach acht. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Dühnfort machte sich auf den Heimweg und passierte in der Sendlinger Straße die gigantische Baulücke, die der Abriss des Redaktionsgebäudes der Süddeutschen Zeitung hinterlassen hatte. Mit ihm waren auch das Café Streiflicht verschwunden und die Buchhandlung Biazza. Eine offene Wunde, an deren Schließung eifrig gearbeitet wurde. Luxuslofts zu unerschwinglichen Preisen entstanden hier. Mit jeder dieser Baustellen verlor München ein Stück seines Charmes und seiner Unverwechselbarkeit.
Sein Handy klingelte. Gina meldete sich. Sie war schon in der Wohnung. »Das Bett ist da. Der Hausmeister hat die Lieferung angenommen. Bevor wir es einweihen, müssen wir allerdings schrauben.«
»Bevor ich schraube, muss ich erst etwas essen.«
»Der Kühlschrank sieht nicht sehr voll aus. Soll ich rasch noch was einkaufen?«
Doch die Läden hatten schon geschlossen. »Ich zaubere uns was Schnelles, und dann bauen wir das Bett auf.«
Als Dühnfort seine Wohnung betrat, standen vier flache Kartons im Flur. Matratze und Lattenrost lehnten in Folie gehüllt an der Wand.
Gina kam aus dem Wohnzimmer und gab ihm einen Kuss. Er zog sie an sich und spielte einen Moment mit dem Gedanken, das
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