Schuld währt ewig
Mädchens hätte besser aufpassen müssen. Die Kleine war erst drei und hat sich von der Hand losgerissen.«
»Mich interessiert, ob die Eltern damals Rache geschworen haben. Hat sie dazu etwas gesagt?«
»Der Vater von Lena, so hieß das Mädchen, hat Jens in der ersten Zeit mit Vorwürfen verfolgt. Das lief alles auf verbaler Ebene und ist fünf Jahre her. Ich glaube nicht, dass wir in der Richtung weitersuchen müssen.«
Ganz meine Meinung. Alois stoppte vor einer roten Ampel.
»Übrigens war Schülke damals der zuständige Staatsanwalt«, sagte Sandra.
»Schülke? Du meinst unseren Richter Kein Pardon ?« Schülke galt als harter Hund. Eines seiner Urteile war vor ein paar Monaten vom Bundesgerichtshof kassiert worden. In dubio pro reo. Der Grundsatz, im Zweifel ein Urteil zugunsten des Angeklagten zu fällen, entsprach nicht so ganz der Auffassung Schülkes.
»Genau der. Schülke wollte damals auf Biegen und Brechen eine Anklage durchsetzen. Angeblich war die Blutprobe ziemlich spät genommen worden und somit nicht sicher, ob Flade tatsächlich null Komma nix getrunken hatte. Aber beim Oberstaatsanwalt ist er damit nicht durchgekommen.«
Okay. Dann war das ja erledigt.
Dennoch wollte sich bei Alois kein Gefühl der Genugtuung einstellen. Um hundertprozentig sicher zu sein, dass der Unfall vor fünf Jahren nichts mit Flades Ableben zu tun hatte, würde er jetzt noch mit Lenas Eltern reden. Und dann war es gut.
24
Sanne lieferte die Bögen bei Frederick ab, trank mit ihm eine Tasse Tee und erfuhr dabei, dass er sich mit dem Gedanken trug, in einem Jahr die Werkstatt zu verkaufen. So langsam kam er ins Rentenalter. Einer der Geigenbauer, die er ausgebildet hatte, war interessiert, würde aber alleine weder das nötige Kapital aufbringen noch die Arbeit bewältigen können. Er war auf der Suche nach einem Partner. Und das veranlasste Frederick laut darüber nachzudenken, ob es denn nicht auch eine Partnerin sein könnte, eine Bogenbauerin, die ideale Ergänzung sozusagen.
Warum konnte nichts im Leben so bleiben, wie es war? Weshalb musste sich ständig alles verändern? Sanne sehnte sich nach Ruhe und Beständigkeit. Und nun das.
Sie wollte keinen neuen Auftraggeber, geschweige denn einen neuen Geschäftspartner. Sie wollte nicht zurück in die Stadt ziehen, und das müsste sie, wenn sie die Werkstatt mit übernahm, und sie wollte sich auch keine neuen Kunden suchen müssen. Sie wollte den Stillstand.
Bei diesem Gedanken erschrak sie. Wie konnte man nur Stillstand wollen?
Sie musste los. Der Zahnarzt wartete. Etwas überstürzt verabschiedete sie sich von Frederick, um den Routinetermin hinter sich zu bringen.
Kurz nach zwölf verließ sie die Praxis am Odeonsplatz und überlegte, ob sie irgendwo eine Kleinigkeit essen sollte. Sie war hungrig. Langsam schlenderte sie Richtung Marienplatz und blieb vor einem Schaufenster stehen, um einen ziemlich extravaganten Wollmantel genauer zu betrachten. Er würde ihr gut stehen. Doch sofort legte sich ein Schatten über den Impuls eines Spontankaufs. Wie beinahe immer. Wie konnte sie nur darüber nachdenken, sich einen sündteuren Mantel zu kaufen, um sich schön und gut und begehrenswert zu fühlen, während Ludwig niemals wieder irgendetwas tun konnte. Elf Jahre wäre er jetzt alt … ginge zur Schule … hätte Spaß. Doch er war tot, und sie dachte über eitlen Firlefanz nach. Wie konnte sie nur?
Morgen. Morgen war es sechs Jahre her. Ihr wurde schwindlig. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Als sie wieder in die spiegelnde Scheibe blickte, entdeckte sie darin ein bekanntes Gesicht. Uli vom KIT . Wie aus dem Boden gewachsen stand sie plötzlich hinter ihr. Ihre Blicke trafen sich. Uli lächelte. Sanne wandte sich um. »Hallo Uli. Das ist ja eine Überraschung!«
Ulrike Rodewald war groß und kräftig. Dadurch wirkte sie robust und bodenständig, was sie allerdings nicht war. Sie war eine einfühlsame Frau und manchmal vielleicht ein wenig empfindlich.
»Na ja, eine solche Überraschung ist das nun auch nicht. Ich arbeite in der Nähe und habe Mittagspause.«
Stimmt. Der Steuerberater, bei dem Uli als Schreibkraft angestellt war, hatte sein Büro in der Innenstadt. Irgendwie wirkte sie verändert. Der modische Kurzhaarschnitt war noch etwas kürzer geworden und das Kastanienrot einem Mahagoniton gewichen. »Die Farbe steht dir gut.«
»Danke. Du siehst auch nicht schlecht aus. Der Mantel wäre doch was für dich.« Uli wies auf das
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