Schuld währt ewig
eingestellt.«
»Dafür müssen handfeste Gründe vorgelegen haben. Ich meine, wirklich handfeste. Wenn nur ein Hauch von Verdacht auf fahrlässige Tötung oder Totschlag bestanden hätte, wäre es zu einem Prozess gekommen, um das zu klären.«
»Natürlich hat es die gegeben. Ich habe ja ausgesagt, dass ich an der Tür stand, als Ludwig aus dem Bett stürzte.«
Domegall lächelte. »Sie waren die Beschuldigte in diesem Verfahren. Es wurde ganz sicher nicht eingestellt, weil die Beschuldigte die Tat bestreitet.« Nun grinste Domegall. »Vincent, mein bester Freund, mit dem ich übrigens gerade telefoniert habe, als Sie hier erschienen, wie von Geistern gejagt, ist Anwalt für Strafrecht. Er redet gerne über seinen Beruf, daher weiß ich solche Dinge. Haben Sie schon mal Einsicht in die Ermittlungsakten beantragt?«
Sanne schüttelte den Kopf. Warum hätte sie das tun sollen? Sie war so erleichtert gewesen, als der Brief der Staatsanwaltschaft kam und den Alptraum beendete, in dem sie seit dem Unfall lebte. Jedenfalls hatte sie gehofft, dass er ein Ende haben würde.
57
»Bevor Sie sich selbst anzeigen, beantrage ich erst einmal Akteneinsicht. Wenn das Ermittlungsverfahren in einem derartigen Fall eingestellt wurde, dann gibt es stichhaltigere Gründe als die Behauptung der Beschuldigten, nicht schuld zu sein. Das dürfen Sie mir schon glauben.«
Sanne konnte zwar nicht sehen, wie Niklas’ Freund, der Rechtsanwalt Dr. Vincent Becker, am Telefon schmunzelte, aber sie meinte, es zu hören.
»Wollen wir das so machen?«
»Ja. Gut. Vermutlich ist es besser so.« Ein wenig Erleichterung breitete sich in ihr aus.
»Ich schicke Ihnen per Mail eine Vollmacht. Wenn Sie die unterschrieben an mich zurücksenden, werde ich mich umgehend um Akteneinsicht bemühen.«
»Ich bin heute Mittag ohnehin in der Stadt. Dann bringe ich sie gleich vorbei.«
»Wunderbar. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Becker verabschiedete sich.
Einen Moment blieb Sanne mit dem Telefon in der Hand stehen und blickte aus dem Fenster. Es war schon nach neun. Wo Herr Kater blieb? Gestern Nacht war er irgendwann zur offenen Werkstatttür hinausspaziert, während sie bei Niklas Pflümli getrunken hatte.
Gestern Nacht … Irgendwann hatte Niklas ihr das Du angeboten. Das Gespräch mit ihm hatte ihr gutgetan. Er hörte zu, reagierte ruhig und überlegt und erteilte ihr nicht unzählige Ratschläge wie Thorsten und Lydia. Außer dem einen, einen Anwalt mit der Akteneinsicht zu beauftragen. »Vincent ist auf Strafrecht spezialisiert, und er ist gut. Falls du einen Verteidiger brauchst, bist du bei ihm in guten Händen.«
Er hatte ihr Adresse und Telefonnummer gegeben und Sanne nach Hause begleitet. Ganz Gentleman. Die Hintertür zur Werkstatt hatte noch offen gestanden. In der Wohnung hatte es seltsam gerochen. Fremd. Als ob jemand da gewesen wäre. Doch alles war wie vorher, als sie gegangen war, um bei Niklas über den Zaun zu steigen. Nichts fehlte. Nichts war verrutscht. Wurde sie langsam paranoid?
Auf dem Feld bewegte sich etwas. Aber es war nur eine Krähe. Herr Kater würde schon noch kommen.
Sanne zündete den Spiritusbrenner an, band sich die Schürze um und machte sich an die Arbeit. Frederick wartete auf zwei Bögen, die heute von ihren Eigentümern abgeholt werden sollten. Die Ruhe in ihrer Werkstatt und der Geruch nach Holz und Leim, Pferdehaar und Kolophonium ließen sie wieder einmal ruhiger werden.
Thorsten hatte recht. Es war Zeit, sich ihrer Schuld zu stellen. Nach der Akteneinsicht würde sie gemeinsam mit Vincent Becker zur Polizei gehen und erzählen, was in jener Nacht wirklich geschehen war und dass sie nicht absichtlich die Unwahrheit gesagt hatte. Hoffentlich glaubte man ihr. Sicher gab es Studien, die belegten, wie Verdrängung funktionierte, dass sie nichts dafür konnte.
Doch bei diesen Gedanken verflog die Ruhe wie ein Vogel in der Nacht. Wenn sie nun ins Gefängnis musste? Alleine die Vorstellung verursachte eine nervöse Übelkeit. Warum nur hatte Thorsten ihr reinen Wein eingeschenkt? Wenn er sie wirklich mochte, vielleicht sogar liebte, warum schützte er sie nicht weiter vor dieser schrecklichen Wahrheit? Zwei Jahre hatte er sie schon gekannt und geschwiegen. Warum jetzt?
Sanne hielt inne, legte das Bündel Pferdehaar ab.
Vielleicht rächte er sich so für ihre Zurückweisung?
War das möglich?
Nein. Ganz sicher nicht. Er war ihr Freund.
Aber er ist auch ein gekränkter Mann, mahnte ihre innere
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