Schuld währt ewig
nicht.
»Entweder irgendein Spinner oder Evelyn. Evelyn Wiedemann.«
»Wer ist das?«
»Ludwigs Mutter.«
»Ludwigs Mutter? Und warum sollte sie Ihnen Angst einjagen?«
Sie wollte nicht darüber reden. Nicht mit ihm. Eigentlich mit niemandem. Dennoch antwortete sie.
»Ludwigs Todestag … Er hat sich vor ein paar Tagen gejährt. Ich bin … Also, es lag an mir … Er ist aus seinem Hochbett gestürzt.« Sie starrte auf den Boden. Als sie wieder aufblickte, sah sie in honigbraune Augen. Plötzlich spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie sich ihm anvertrauen wollte. Er würde zuhören, verstehen, sie nicht verurteilen und sie zu nichts drängen.
»Es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall. Ludwig … Er war so lebhaft, ein unruhiges Kind. Immer in Bewegung. Hyperaktiv nennt man das wohl. Ich war seine Babysitterin und kam eigentlich gut mit ihm zurecht. An dem Abend, als es passiert ist … An diesem Abend war er total aufgedreht, wollte nicht schlafen, und es ist mir ewig nicht gelungen, ihn zu beruhigen. Er ist in seinem Bett herumgehüpft, bis er nicht mehr konnte und ich ihn an einem Bein gezogen habe. Da ist er in die Kissen geplumpst. Ich habe ihn zugedeckt, doch er ist wieder aufgesprungen und wollte, dass ich ihn noch mal am Bein ziehe, damit er wieder in die Kissen fällt. Ich habe … ich habe …« Sanne verdrängte die Bilder, die in ihr aufstiegen. Mit einem Schluck leerte sie das Glas und spürte das Brennen in Mund und Kehle kaum. »Ich habe noch mal an seinem Bein gezogen! Dabei ist er aus dem Bett gestürzt … und hat sich … Er hat sich das Genick gebrochen.« So, nun war es raus. »Ich habe das doch nicht gewollt.«
Domegall griff nach ihrer Hand. Seine fühlte sich rau an.
»Bis vorgestern hatte ich das vergessen.« Sie erzählte ihm von den entscheidenden Sekunden, die sie komplett verdrängt hatte. Bis auf ein einziges Mal, als sie sich Thorsten anvertraut hatte.
»An diesem schrecklichen Abend kam die Polizei … Ich habe nicht absichtlich gelogen. Ich konnte mich wirklich nicht erinnern, was in diesen zwei oder drei Sekunden geschehen ist. Es war einfach weg.« Sanne schlang die Hände ineinander und sah Domegall an. Sie wollte nicht, dass er sie für eine Lügnerin hielt. Sein Blick war offen und abwartend. »In meiner Erinnerung lag meine Hand auf der Türklinke, als Ludwig aus dem Bett fiel. Das habe ich jedenfalls geglaubt, und so habe ich es auch bei der Polizei ausgesagt. Dabei muss diese Erinnerung Sekunden später entstanden sein, als ich aus dem Zimmer gerannt bin, um den Notarzt zu rufen.«
»Und seit ein paar Tagen ist die Erinnerung an das tatsächliche Geschehen wieder da? Ihr Freund Thorsten dachte, es wäre an der Zeit, dass Sie die Wahrheit zulassen?«
Sanne zog die Schultern hoch. »Ich werde mir morgen einen Anwalt suchen und dann zur Polizei gehen.«
»Gab es denn kein Ermittlungsverfahren?«
»Doch. Schon. Evelyn … Sie hat von Anfang an geglaubt, dass ich … dass ich daran mitgewirkt habe. In irgendeiner Form. Sie hat bei der Polizei ausgesagt, ich wäre unzuverlässig und labil, nicht belastbar, mir wäre schon mal die Hand ausgerutscht. Das war gelogen. Ich habe Ludwig nie geschlagen. Ich weiß nicht, wie sie dazu kam, das zu behaupten.« Sanne fuhr sich durch die Haare, als könnte sie so die aufkommende Gedankenflut stoppen. Ihr Leben, das sie sich so mühsam aufgebaut hatte, brach auseinander, zerfiel wie ein Mosaik, aus dessen Fugen der Kitt bröckelte.
Domegalls Hand lag noch immer auf ihrer. »Sie braucht jemanden, dem sie die Schuld geben kann. Das macht es für sie leichter. Wie soll man denn weiterleben mit dem Wissen, dass unser Leben der Willkür einer Macht unterworfen ist, auf die wir keinen Einfluss haben, die jederzeit zuschlagen kann und die wir Schicksal nennen? Man kann es nicht besänftigen, nicht bändigen, nicht friedlich stimmen, seine Gunst erringen. Weder durch Glauben noch Opfergaben noch Wohlverhalten. Es macht uns ohnmächtig, und dagegen kämpfen wir an, indem wir nicht an Schicksal glauben wollen. Wir suchen Erklärungen.« Während er sprach, wurden seine Augen dunkler, entfernte sein Blick sich von ihrem, richtete sich nach innen. Sanne fragte sich unwillkürlich, was ihm widerfahren war und zu solchen Überlegungen veranlasste.
»Wenn Ludwigs Eltern Sie bei der Polizei belastet haben, muss es doch ein Ermittlungsverfahren gegeben haben und einen Prozess. Oder?«
»Das Verfahren wurde
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