Schuld währt ewig
Hamlet gehorchte. Domegall hob das Telefon ans Ohr. »Vincent? Ich melde mich morgen … Ja … Alles in Ordnung. Bis dann.« Er legte auf.
Sanne stand da wie eingefroren, registrierte allerdings zu ihrer großen Erleichterung, dass ihr Herz nicht barst, sondern sich beruhigte. Gott, war das peinlich. Wie eine Einbrecherin, nein, schlimmer noch, wie eine Stalkerin hatte Domegall sie erwischt. Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung für ihre Anwesenheit auf seiner Terrasse. Doch ihr fiel keine ein.
»Ist etwas passiert? Sie sehen aus, als würden Sie gleich umkippen.«
Einen Moment war sie versucht, dem Impuls zu folgen, hinüberzulaufen in ihr Häuschen, um sich zu vergewissern, dass der Anrufer noch dran war, ob er noch atmete und schwieg. Domegall war es offenbar nicht gewesen. Eigentlich sollte sie darüber erleichtert sein. Er war es nicht! Doch wer dann? »Umkippen? … Nein … es ist nur … es ist alles …« Meine Güte, weshalb stotterte sie so herum? Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass sie ihn verdächtigt hatte.
»Es ist nur …?« Abwartend sah er sie an.
Sollte sie ihm erzählen, was los war? »Ich bekomme anonyme Anrufe. Den letzten gerade … vor ein paar Minuten.«
Verwunderung zog über sein Gesicht, dann Verstehen. »Sie dachten, ich …?« Er wies auf das Telefon in seiner Hand, und dann lachte er. Dieses offene und entwaffnende Lachen. »Kommen Sie rein. Von mir haben Sie nichts zu befürchten. Außer einem Becher Tee. Oder vielleicht lieber ein Pflümli auf den Schreck? Selbst gebrannt von einem Freund aus Baden.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern und bugsierte sie ins Haus.
»Ein Tee wäre nicht schlecht.« Sanne ließ sich in einen Ledersessel plumpsen. Sie kam sich völlig lächerlich vor, total idiotisch. Hamlet trottete herein und legte sich neben dem Sessel auf den Boden, als ob er sie bewachen wollte. »Oder doch lieber einen Schnaps.«
Domegall schmunzelte. »Ist sicher besser fürs Nervenkostüm.«
Die Einrichtung gefiel ihr. Lauter alte Möbel. Ein schrundiger Tisch von vier verschiedenen Stühlen umgeben, von denen jeder eine andere Geschichte zu erzählen hätte. Aberhunderte Bücher in Regalen. Gegenüber ein Sofa, das durch seine schlichte Form bestach und sicher achtzig Jahre auf dem Buckel hatte. Vor dem Clubsessel, in dem sie saß, stand eine Fußbank.
Domegall hantierte in einer Küchenecke, die aus den fünfziger Jahren stammen musste. Weiter hinten entdeckte Sanne zwei Rollladenschränke aus dunklem Holz, die sicher vor annähernd hundert Jahren in einem Büro gestanden hatten, in dem das Personal Ärmelschoner trug und Bakelitlampen Licht spendeten. Art déco oder Jugendstil? Jedenfalls wunderschön. Nun dienten sie als Raumteiler.
Domegall kam mit zwei Gläsern. Auch sie waren alt. Bleikristall. Vierziger Jahre, schätzte Sanne. »In Ihrem Haushalt gibt es wohl nichts, das jünger ist als sechzig Jahre.«
Er reichte ihr ein Glas und setzte sich. »Hamlet. Hast du das gehört?« Der Hund hob den Kopf. »Sind wir jetzt beleidigt? Was meinst du?«
»O Gott. Nein. So habe ich das nicht gemeint.«
Domegall lachte sein breites, offenes Lachen. Plötzlich fragte Sanne sich, wie sie ihm anfangs so ablehnend hatte gegenüberstehen und ihn sogar für einen Macho der übelsten Sorte hatte halten können.
»Trinken wir jetzt auf gute Nachbarschaft?« Er hob sein Glas.
»Einen Versuch wäre es wert.« Der Pflaumenschnaps war weich und mild, allerdings brannte er in der Kehle.
Die Tür zu ihrer Werkstatt stand noch offen. Ob sie schnell rübergehen sollte, um sie zu schließen? Doch hier brach niemand ein.
»Diese Anrufe, geht das schon lange?«
Jetzt würde er vermutlich denken, sie sei hysterisch, dennoch antwortete sie wahrheitsgemäß. »Es waren erst zwei. Ich weiß auch nicht, weshalb sie mich so durcheinanderbringen. Momentan verändert sich zu viel in meinem Leben. Vielleicht liegt es daran.«
Frederick, der die Werkstatt verkaufen wollte. Wenn sie nicht mit einstieg, sondern ein anderer Bogenbauer, würde sie ihre Existenzgrundlage verlieren. Thorsten, der es nicht hatte lassen können, ihr diese schreckliche Wahrheit bewusstzumachen, und sich nun nicht darum kümmerte, wie es ihr ging. Noch immer hatte er sich nicht gemeldet. Evelyn, mit ihren Vorwürfen und dem schrecklichen Auftritt auf dem Friedhof, und nun auch noch anonyme Anrufe.
»Haben Sie eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte? Ich meine, außer mir.« Diesmal lachte er
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