Schuld währt ewig
besorgt über Helmbichlers Angriff und bat Dühnfort, gegebenenfalls psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gott sei Dank würden die Zeitungen erst morgen darüber berichten. Der Zwischenfall hatte sich nach Redaktionsschluss ereignet und daher keinen Eingang mehr in die Printausgaben gefunden. Online war er natürlich längst Thema. In einer halben Stunde begann die Pressekonferenz, an der Dühnfort teilnehmen sollte. Dieses Ansinnen wies er von sich. Zu viel Arbeit. Er hatte einen Mörder zu finden, der immer skrupelloser und schneller wurde. Heigls Protest prallte an ihm ab. Keine Zeit. Es war, als ob er alles durch Milchglas wahrnähme. Er kehrte in sein Büro zurück und brachte sich anhand der elektronischen Akte auf den aktuellen Stand.
Hatten sie etwas übersehen? Wo gab es Überschneidungen? Mit zwei Espressi bekämpfte er die Müdigkeit, doch das wattige Gefühl blieb.
Irgendwann überfiel ihn die Angst, den Überblick zu verlieren. Sein Kopf dröhnte. Er brauchte frische Luft.
Es war noch nicht Mittag, doch Dämmerung lag über der Stadt wie ein Kissen, das alles erstickte.
Wohin?
Er ging einfach los. Mied die Fußgängerzone. Zu hektisch. Zu laut. Er suchte Ruhe. Flirrender Glanz überall. Weihnachtsmusik. Glühweingeruch. Überfüllte Gehwege. Menschen. Überall Menschen. Beladen mit Tüten. Vermummt in Mänteln, Mützen, Schals. Instinktiv mied er die Schatten. Er suchte Stille, Einsamkeit, passierte die Theatinerkirche. Hier vielleicht? Er war nicht gläubig. Eine Frau rempelte ihn an. Ein Biss- Verkäufer bot ihm die Obdachlosenzeitschrift zum Kauf an. Die Rolltreppe schaufelte Menschen vom U-Bahnhof an die Oberfläche. Eine Gruppe Touristen kam aus der Kirche. Bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, trat Dühnfort ein.
Klare Helligkeit. Friede. Seine Schritte hallten auf dem Steinboden nach. Weite. Ruhe. Hoch über ihm wölbte sich die weiße Kuppel. Nur wenige Besucher gingen zwischen den Bankreihen aus dunklem Holz umher. Dühnfort setzte sich. Weiter vorne war eine alte Frau ins Gebet vertieft. Im Seitenschiff kaufte jemand eine Kerze und zündete sie an. Dühnfort bedeckte sein Gesicht mit den Händen und versuchte die Tränen zu bezwingen, die ohne Vorwarnung in ihm aufstiegen.
59
Alois saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Monitor. Dort sah er Helmbichlers Gesicht, obwohl der Bildschirm die Eingabemaske für ein Protokoll zeigte. Auch wenn er aus dem Fenster schaute oder an die Wand blickte, überall erschien Helmbichler.
Right between the eyes.
Er hatte es geschafft. Er hatte ein Leben gerettet.
Und eines ausgelöscht.
Es war Nothilfe gewesen. Eine Sekunde später und sie würden demnächst auf Tinos Beisetzung gehen. Er hatte keine Wahl gehabt. Das würde er bald amtlich haben. Die Untersuchung lief. Seine Aussage hatte er gemacht. Konnte sein, dass Mertens das Geschehen nachstellen wollte. Das würde sich morgen entscheiden.
Kopfschuss.
Ein kleines Loch. Kaum Blut. Helmbichlers Augen. Gebrochen und doch Überraschung darin. Und Anklage.
Weshalb ließ ihm Helmbichlers Tod keine Ruhe? Er war ein Verbrecher gewesen. Heimtückisch und hinterrücks hatte er versucht, Tino abzustechen. So eine Drecksau. Verflucht! Und über so einen zerbrach er sich den Kopf!
Das Handy klingelte. Moni war dran. Moni Weiss. Mit ihr hatte er sich vor ein paar Tagen in der Havana-Bar getroffen. Nicht so ganz das Ambiente, das er bevorzugte. Doch Moni gefiel es dort. Und Moni gefiel ihm. Sehr weiblicher Typ mit superlangen Beinen und trockenem Humor. Sie arbeitete als freie Journalistin.
Während des Abends war sie auf einen Prozess zu sprechen gekommen, dem Schülke vorsaß, der Richter, der kein Pardon kannte. Alois hatte nachgefragt, ob sie wusste, weshalb der so drauf war. Eine Familientragödie, meinte sie. Vor Jahren hatte sie mal etwas in der Art gehört und Alois versprochen, im Zeitungsarchiv nachzuforschen. Nun meldete sie sich deswegen. »Ich musste zwar Staub schlucken und tatsächlich Mikrofilme raussuchen, so lange ist das her. Aber nun bin ich bestens informiert. Treffen wir uns in einer Viertelstunde im Glockenspiel?«
Alois war froh, aus dem Büro zu kommen. »Perfekt. Bis gleich.«
Er schlüpfte in den Mantel, griff nach Schal und Lederhandschuhen und sah zu, dass er rauskam.
Graues Licht lag über der Stadt. In der Fußgängerzone roch es nach Lebkuchen, heißen Maroni und gebrannten Mandeln. Menschenmassen schoben sich durch die Kaufingerstraße. Überall bunte
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