Schuld war nur die Badewanne
Wandlitz »volles Haus« zugesichert, doch was davon zu halten war, hatte ich in den letzten Tagen genug erfahren. Jetzt wollte ich ganz einfach nicht mehr! Natürlich würde ich Frau S. einen ausführlichen Brief schreiben, und dann würde sie mich hoffentlich verstehen.
Weil Nicki nun doch nicht mehr den Spreewald besuchen, sondern so schnell wie möglich »raus aus Ossiland« wollte, hatten wir unser Gepäck ins Auto geladen, den kürzesten Weg zur nächsten großen Straße Richtung Westen gesucht und waren richtig froh gewesen, als das erste Schild auftauchte: Berlin 67 km. Trotz allen guten Willens hatten wir die neuen Bundesländer immer noch zu sehr mit westlichen Augen betrachtet, hatten mehr erwartet, hatten unbewusst geglaubt, dass zumindest hier im Osten noch etwas von der Euphorie zu spüren sein würde, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit die Menschen auf beiden Seiten der zerbröckelten Mauer erfüllt hatte. Die Hochstimmung war vorbei, jetzt waren mit dem Alltag die Enttäuschungen gekommen. Was nützt denn die neue Tiefkühltruhe, wenn man nichts hat, das man einfrieren kann? Hatte man vor der Wende zwar auch nicht gehabt, aber da hatte man auch keine Kühltruhe. Jetzt hat man sie, dafür hat man seinen Job verloren, und von den paar Mark Stütze kann man keine Vorratswirtschaft betreiben. Natürlich musste ein Westauto her, kein neues, bloß ein Gebrauchtwagen, ist ja auch verständlich nach vierzig Jahren Trabi oder Wartburg, doch kaum jemand hat gewusst, wie hoch künftig die Kosten für Steuer und Versicherung sein würden. Die hatte man früher nämlich mit links bezahlt.
Ja, ich hatte eine Menge gelernt in den letzten Tagen, hatte versucht zu verstehen und doch immer wieder feststellen müssen, dass wir zwar dieselbe Sprache sprechen und trotzdem so oft aneinander vorbeireden. Ich werde wiederkommen, dann jedoch ohne festes Ziel und ganz privat, aber erst in einigen Jahren, wenn die Wessis sich nicht mehr wundern, dass es in Ossiland sogar schon früher fließendes Wasser und elektrisches Licht gegeben hat, und die Ossis endlich einsehen, dass es im Westen auch länger als zwei Jahre gedauert hat, den gegenwärtigen Lebensstandard zu erreichen. Vielleicht haben die Ossis bis dahin ja ebenfalls die Nase voll von den kommerziellen Fernsehsendern und lesen wieder Bücher!
Dagi stieg gerade aus ihrem Käfer, als ich um die Ecke bog. Diesen Wagen, der eigentlich nur noch durch seine solide Dreckschicht zusammengehalten wurde, hatte sie vor mindestens zehn Jahren von ihrer Mutter übernommen, und selbst da war er schon eine Antiquität gewesen. Mit dem Zeigefinger bohrte ich in einem Rostloch herum. »Meinst du nicht, du solltest mal auf ein Auto umsteigen, das
nach
dem Ersten Weltkrieg gebaut worden ist?«
»Mir wird gar nichts anderes übrigbleiben«, sagte sie gleichmütig. »Die Mühle springt nur noch nach gutem Zureden an, aber eine neue Batterie rücken sie nicht gegen Kreditkarte raus. Da wollen sie doch tatsächlich Bares haben!« Sie holte zwei Einkaufstüten von der Rückbank und schloss den Wagen ab. »Verstehe ich gar nicht. Barzahler werden doch langsam suspekt, weil sich jeder unwillkürlich fragt, ob sie nicht kreditwürdig sind. – Hier, kannst du mal eine nehmen?« Ich bekam eine Tüte in die Hand gedrückt, und während wir auf den Fahrstuhl warteten, moserte sie weiter: »Du bist doch früher bestimmt mit deiner Großmutter zusammen einkaufen gegangen, nicht wahr? – Siehste! Ich auch, und ich weiß noch genau, dass Emmchen immer ganz genau gewusst hat, was sie brauchte. Und was mache ich? Ich gehe in den Supermarkt, um zu sehen, was ich brauchen könnte!«
»Und was hast du gebraucht?« Die Tüte war ziemlich schwer.
»Im Einzelnen weiß ich das nicht mehr, aber ich habe endlich begriffen, was man unter Inflation versteht. Wenn man nämlich heute mit fünfzig Mark zum Einkaufen geht, ist man schneller wieder aus dem Laden draußen als noch vor einem Jahr. Warum dringen bei den Großhandelspreisen eigentlich immer bloß die Erhöhungen bis zu uns durch?«
Dagi hat selten ein Plus auf dem Konto, und wer sie näher kennt, weiß auch, warum. Sie gehört zu den Menschen, die einer Freundin ihren neuen, sündhaft teuren Pulli leihen, und wenn sie ihn ramponiert zurückbekommen, lediglich feststellen: »So richtig hat er mir ja gar nicht gefallen.«
Dagi kümmert sich um herrenlose Hunde und gehbehinderte Hausbewohner, tröstet verliebte Teenager, kocht für Sohn
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