Schuldig wer vergisst
entgegen. »Ich muss Schluss machen, Mel«, sagte sie ins Telefon. »Angus ist gerade gekommen. Ich ruf dich später noch mal an.«
Angus lockerte seine Krawatte. Jilly sah wirklich bezaubernd aus: das seidig blonde Haar gegen den hellblauen Satin der Tagesdecke, dazu ein edler rosa Kaschmirpulli, der ihre Kurven eher betonte als verdeckte.
Doch sie setzte sich auf, stellte das Telefon auf dem Nachttisch ab und strich sich die Kleider glatt. »Du bist heute früh dran«, bemerkte sie.
»Ich hab uns für heute Abend einen Tisch reserviert. Chez Antoine. Ich hatte Lust, mal wieder essen zu gehen.«
»In dem Fall kann ich nur hoffen, dass du nicht Alex mitnehmen wolltest«, sagte Jilly mit dieser Mischung aus hochgezogener Augenbraue und aufgerissenen Augen, die sie statt Stirnrunzeln zum Einsatz brachte, um nicht ihre Haut zu ruinieren. »Deine Tochter ist bei mir in Ungnade gefallen.«
Er war enttäuscht. Naiverweise hatte er sich Hoffnung auf einen angenehmen Abend, ein entspannendes Wochenende gemacht. »Was hat sie denn wieder verbrochen?«
Jilly warf ihr Haar zurück. »Nichts weiter, als eine ganz und gar unwürdige Handgreiflichkeit an der Schule anzufangen! Und ausgerechnet mit Beatrice und Georgina! Die Direktorin hat Mel angerufen! Ich durfte den Nachmittag am Telefon zubringen, um mich bei meiner eigenen Schwester für das Benehmen deiner Tochter zu entschuldigen. Ich bin sicher, sie hat es nur getan, um mir eins auszuwischen.«
Angus’ erster Instinkt war, seine Tochter zu verteidigen. Sonntag um Sonntag hatte er Jillys junge Nichten in Aktion erlebt und glaubte daher keine Sekunde, dass sie für das, was passiert war, keinerlei Schuld traf. Nur wusste er auch, dass Gegenbeschuldigungen völlig kontraproduktiv gewesen wären. Er musste mit Alex reden und ihre Sicht der Dinge hören, um sich ein Bild davon zu machen, was tatsächlich vorgefallen war; erst dann konnte er an Konsequenzen denken. »Wo ist sie jetzt?«, fragte er.
»In ihrem Zimmer. Sie schmollt. Von mir aus kann sie das ganze Wochenende da bleiben.«
Angus drehte sich um und ging zur Tür.
Jilly erhob ihre Stimme. »Wahrscheinlich willst du ihr sagen, es wäre schon in Ordnung. Aber ich sage dir, es ist absolut nicht in Ordnung. Jedenfalls nicht für mich.«
»Ich werde sie fragen, was passiert ist«, sagte er so ruhig er konnte.
»Und dann glaubst du ihr natürlich alles aufs Wort. Deiner ach so lieben Tochter«, schnaubte Jilly. »Was kümmern dich schon Melanie und Beatrice und Georgina. Und ich .«
Auf dem Weg zu Alex’ Zimmer kaute Angus eine weitere Magentablette. Er klopfte leise an die Tür. »Alex? Alex, mein Mädel? Kann ich reinkommen?«
Keine Antwort.
»Hör zu, Kleines, ich weiß, dass man immer beide Seiten hören muss. Ich wüsste gerne, was du dazu zu sagen hast.« Er überlegte, ob er an diesem Punkt Jilly erwähnen sollte, ließ es aber bleiben.
Nachdem es lange still geblieben war, versuchte er es ein letztes Mal. »Alex, wenn du nicht aufmachst, komme ich jetzt rein. Wir müssen reden.«
Wieder herrschte auf der anderen Seite Schweigen. Er drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Alex’ Zimmer war die übliche Müllhalde: ungemachtes Bett, Schuluniform einfach fallen gelassen, andere Kleider quer über den Boden verstreut. Jilly weigerte sich, auch nur einen Fuß in Alex’ Zimmer zu setzen; selbst die Putzfrau hatte es seit Tagen nicht betreten, und das sah man.
Angus schaute sich um. Er betrachtete den Schreibtisch mit dem leuchtenden Computerbildschirm und den Stapeln an Büchern und Papieren.
Alles mehr oder weniger so wie das letzte Mal, als er es gesehen hatte, nur dass Alex nicht da war.
Er warf einen Blick in den Kleiderschrank, nur um ganz sicherzugehen, dass sie sich nicht dort versteckte, um ihm
Angst einzujagen. »Jilly«, rief er, als er wieder in die Diele trat. »Alex ist nicht in ihrem Zimmer.«
Sie kam aus dem Schlafzimmer und zuckte die Achseln. »Hast du auf dem Klo und in der Küche nachgesehen?«
Angus ging von Zimmer zu Zimmer. Nirgends eine Spur von Alex.
»Vielleicht hat sie sich heimlich rausgeschlichen, während ich am Telefon war«, vermutete Jilly. »Nur um mich zu ärgern.«
»Ist ihr Mantel da?«, fragte er. »An einem solchen Tag würde sie sicher nicht ohne Mantel rausgehen.«
Jilly warf einen Blick auf den Stuhl, der Alex gewöhnlich als Mantelablage diente. »Er war vorhin noch da auf dem Stuhl«, räumte sie ein. »Das macht sie auch immer, um
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