Schuldig wer vergisst
enttäuschte ihn nicht.
»Ich denke, es war so zwischen, na ja, sagen wir, vier und sechs?«
»Genauer geht es nicht?«
»Nein, tut mir leid.«
»Alex verbringt viel Zeit in ihrem Zimmer«, erklärte Angus Hamilton, um vielleicht dem Eindruck vorzubeugen, seine Frau sei hinsichtlich seiner Tochter etwas nachlässig. »Sie ist sehr … fleißig. Ernsthaft. Nicht wahr, Jilly?«
Neville wechselte den Blick schnell genug zu Jilly, um zu sehen, wie sie die Augen verdrehte. »Todernst«, bestätigte sie, und es klang nicht wie ein Kompliment. »Interessiert sich nicht für typische Mädchensachen. Anders als ihre Kusinen.«
Es war Zeit, erkannte Neville, sein Notizbuch zu zücken. Er schlug ein leeres Blatt auf. »Ihre Kusinen?«
»Stiefkusinen, genauer gesagt«, korrigierte sie sich. »Beatrice und Georgina. Die Mädchen meiner Schwester. Melanie ist einige Jährchen älter als ich«, fügte sie hinzu, als sei sie eine Erklärung schuldig. »Und sie hat jung geheiratet. Deshalb sind ihre Töchter ungefähr in Alex’ Alter. Ich hatte gehofft, sie würden dicke Freundinnen werden. Ich meine, wo sie doch in dieselbe Schule gehen; außerdem wohnen sie nur ein Stück die Straße rauf.« Jilly deutete vage Richtung Fenster. »Aber sie ist vollkommen anders als die beiden. Sie sind richtige Mädchen, so wie ich es war. Klamotten, Make-up, Jungs. Popstars. Nicht Computer und Bücher wie bei Alex.«
Neville pickte sich ein Wort aus ihrem plätschernden Monolog heraus. »Jungs?«
»Beatrice und Georgina haben jede Menge Verehrer.« Sie schenkte ihm ein selbstgefälliges Lächeln. »So wie ich in ihrem Alter.«
»Und Alex? Hat die keine Verehrer?«
»Oh, guter Witz.« Jilly brachte ein klingelndes, künstliches Lachen hervor. »Keine Chance, Inspector.« Sie stockte, während sie zu ihrem Mann hinüberschielte. »Offen gesagt ging es bei dem Streit auch um dieses Thema. Ich meine, dass sie behauptet hat, sie hätte einen Freund, wo es doch gar nicht stimmt.«
Angus Hamilton runzelte die Stirn. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Bitte, Mrs Hamilton«, sagte Neville, gründlich verwirrt. »Können Sie mir das erklären?«
»Na ja, es war eigentlich ziemlich albern.« Wieder dieses aufreizende Zucken. »Beatrice und Georgina zufolge bestand Alex darauf, sie hätte einen Freund. Sie hat gesagt, er hieße Jack und wohne in London. Sie hat behauptet, sie hätte ein Foto von ihm in einem alten Medaillon, das sie trug.«
»Das Medaillon ihrer Großmutter!«, sagte Angus Hamilton und richtete sich noch ein wenig weiter auf. »Das muss es gewesen sein. Ich wusste gar nicht, dass sie es noch hat.«
Jilly fuhr in ihrer Erzählung fort. »Ihre Kusinen sagen, sie hätten sie gefragt, ob sie es mal sehen dürften, und sie hat ihnen tatsächlich ein Bild gezeigt, das sie offenbar aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte oder so. Ich meine, hat sie wirklich gedacht, sie kaufen ihr das ab?«
»Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht die Wahrheit gesagt haben könnte?«, fragte Neville und blickte zwischen den Eheleuten hin und her. »Es wäre doch immerhin möglich, oder?«
»Alex ist ein bisschen jung für so etwas«, erklärte ihr Vater. »Ich weiß zwar, dass ein paar Mädels in ihrem Alter sich schon für Jungs interessieren. Aber meine Alex ist noch sehr jung für ihr Alter, wenn Sie verstehen, was ich meine. In ein, zwei Jahren vielleicht – aber jetzt noch nicht.«
Neville beschloss, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Nachdem er Jack? geschrieben hatte, blätterte er zu einer leeren Seite in seinem Notizbuch weiter. »In Ordnung. Dann eben keine Freunde. Aber wie sieht es mit Freundinnen aus? Anderen Mädchen an ihrer Schule oder in der Nachbarschaft, die sie mittags mit nach Hause bringt oder bei denen sie schon mal abends zum Lernen oder zum Fernsehen
bleibt?« Das fasste in etwa Nevilles Vorstellungen von Mädchenfreundschaften zusammen.
»Nein, nichts dergleichen«, sagte Jilly. »Sie hat keine Freunde.«
»Sie ist so was wie eine Einzelgängerin«, fügte Angus Hamilton hinzu. »Auch wenn sie in Schottland eine gute Freundin hatte. Kirsty hieß sie, glaube ich. Alex war nicht glücklich darüber, dass sie sich von ihr trennen musste.«
»Noch irgendjemand, dem sie nahesteht? Angehörige?«
»Alex liebt ihre Granny«, sagte Angus Hamilton beinahe widerwillig. »Aber sie sieht sie kaum einmal. Jetzt nicht mehr.«
»Seit dem Umzug nach London«, fügte Jilly erklärend
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