Schuldig wer vergisst
Woche.
Mark hatte die letzten paar Sonntage ausgelassen. Jetzt musste er es wieder gutmachen. Dabei hatte er Callie schon halb versprochen, heute mit ihr zusammen einen Weihnachtsbaum für ihre Wohnung zu kaufen und zu schmücken. Nachdem er ihr schon gestern Abend abgesagt hatte, ertrug er den Gedanken nicht, sie heute schon wieder zu enttäuschen.
Aber er hatte es Mama versprochen.
Wenn er sich doch nur klonen und an zwei Orten gleichzeitig sein könnte.
Er hob den Kopf und sah auf die Uhr. Die Messe begann um zehn, und es war bereits nach neun. Er musste sich beeilen.
Doch er hörte bereits seinen Mitbewohner im Bad unter der Dusche. Und Geoff duschte lange und ausgiebig. Er hatte seine Chance verpasst. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Mark stöhnte und drehte sich noch einmal auf die andere Seite.
Als Alex am Sonntagmorgen aufwachte, hielt sie wie gewöhnlich Buster Bear im Arm.
Buster war trotz des Namens ein Bärenmädchen. Alex besaß sie schon, so lange sie denken konnte. Buster, so viel wusste sie, war ein Geschenk von Granny und Granddad, als sie ein Baby war. Und Mum hatte jedes Jahr zu Weihnachten ein neues Kleid für Buster gemacht. Das vom letzten Jahr wurde allmählich ein wenig schmuddelig.
Alex klammerte sich verzweifelt an den verblassenden Traum, in dem sie und Mum und Dad zusammen im Urlaub
waren, und sträubte sich dagegen, ganz aufzuwachen. Der Duft nach Kaffee zog durchs Haus, also waren Dad und Jilly schon auf.
Und es war Sonntag! Der Wochentag, den Alex am meisten hasste. Noch mehr als die Schultage.
Sonntagnachmittag wurde sie zu Jillys dämlicher Familie geschleift. Mit Jilly zusammenzuleben, war schlimm genug, aber dass sie auch noch Zeit mit ihrer schrecklichen Familie verbringen sollte …
Jillys Mutter war genauso blöd wie sie selbst, nur älter. Ebenso Jillys Schwester Melanie. Die beiden hatten bei der großen Verteilung keine einzige graue Zelle abgekriegt. Wenigstens ignorierten sie Alex genauso wie Jilly. Und Jillys Dad war noch schlimmer: Er behandelte sie von oben herab und hänselte sie wegen der Spange. Der absolute Horror allerdings waren Jillys beide Nichten. Unendlich viel schlimmer als der Rest – sogar schlimmer noch als die Mädchen in der Schule.
Sie waren beide an ihrer Schule, wenn auch glücklicherweise nicht in ihrer Klasse. Beatrice war ein Jahr älter als Alex; Georgina – nach Jillys Vater benannt und eindeutig sein Liebling – ein Jahr jünger. Sie waren beide blond und hübsch, auf dieselbe seichte Art wie alle Frauen in der Familie, und sehr auf ihr Äußeres, ihre Klamotten bedacht.
Beim Essen waren sie die reinsten Unschuldslämmer. Sie waren höflich und kannten ihren Platz. Nach der Mahlzeit wurden sie allerdings rausgeschickt. »Mädchen, wollt ihr nicht in euer Zimmer gehen und spielen? Und nehmt Alex mit.« Das war der Anfang ihrer Folterqualen.
Sie waren unbarmherzig, von Natur aus grausam. Sie hatten einen sicheren Instinkt dafür, wie sie Alex am wirkungsvollsten verletzen konnten. Waren sie erst einmal mit dem Vorgeplänkel durch – ihr krauses Haar, ihre Spange, ihre
dünne Figur, ihre hässlichen Kleider, die komische Art, wie sie sprach -, dann kamen sie – mit vereinten Kräften – zur Sache.
»Weißt du, dass Tante Jilly dich hasst?«, fing Beatrice an. »Sie wünschte sich, du müsstest nicht bei ihnen leben. Wieso musst du das eigentlich?«
»Weil ihre Mum sie nicht haben will«, fiel Georgina dann ein, und zwar an Beatrice und nicht an Alex gerichtet. »Ihre richtige Mum hasst sie nämlich auch.«
»Das ist nicht wahr«, platzte Alex dann gegen ihren Willen heraus. »Das stimmt nicht! Meine Mum liebt mich!«
»Vielleicht ist ihre Mum ja auch tot.«
»Sie ist nicht tot!«
»Wetten doch? Sie haben es dir nur nicht gesagt. Sie ist tot. Vielleicht hat sie sich umgebracht. Oder sie ist mit einem anderen Mann durchgebrannt. Oder auch einer anderen Frau. Deine Mutter ist eine Lesbe.«
»Eine Lesbe! Ihre Mutter ist eine Lesbe!«
»Ist sie nicht!«
»Wetten, deine Mum ist so hässlich wie du? Deshalb hat dein Dad sie verlassen.«
»Ihre Mum ist alt. Alt und hässlich. Hat mir Tante Jilly erzählt.«
So ging es endlos weiter, während Alex sich die größte Mühe gab, nicht zu weinen und ihnen wenigstens nicht zu zeigen, wie tief sie sie verletzten.
Jeden Sonntag dasselbe Spiel.
Alex drückte Buster an ihren Körper. »Ich gehe nicht hin«, flüsterte sie entschlossen. »Ich tu’s einfach nicht.« Das
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