Schuldig wer vergisst
bräuchte er niemanden sonst.« Sie starrte in ihren Tee.
»Aber das ist keine gesunde Einstellung, Schätzchen«, entgegnete Yolanda und bemühte sich, es nicht wie eine Kritik an Trevor klingen zu lassen. »Vielleicht war es ja für ihn in Ordnung, aber …«
»Er hatte es auch nicht gern, wenn ich allein irgendwo hinging«, platzte Rachel heraus. »Es wäre nicht sicher – hat er immer gesagt. Besonders jetzt, wo das Baby unterwegs ist.« Sie schnappte nach Luft. »Er war … sehr fürsorglich mir gegenüber.«
Und jetzt war sie allein und wehrlos. Yolanda hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Doch irgendetwas fing an, tief in ihrem Innern zu nagen. Rachel schien unbedingt glauben und auch die Polizei davon überzeugen zu wollen, dass Trevor ein wahrer Heiliger und ihre Ehe das vollkommene Glück auf Erden gewesen sei. Doch aus lebenslanger Erfahrung wusste Yolanda, dass keine Ehe perfekt war. Auch diejenigen,
die funktionierten, hatten ihre Grauzonen und ihre trüben Seiten, von denen nur die beiden Ehepartner wussten – oder nicht einmal die, wenn sie nur beharrlich genug geleugnet und verdrängt wurden. Wo lag in dieser Beziehung die Wahrheit unter der Oberfläche?
Neville war mit seinem Papierkram ständig im Verzug. Nicht, dass er desorganisiert gewesen wäre: Es interessierte ihn nur einfach nicht. War ein Fall erst einmal gelöst, hatte er keine Lust, ihn noch schlüssig zusammenzufassen, sondern wollte stattdessen lieber gleich zum nächsten Fall, zur nächsten Herausforderung übergehen.
Doch Papiere verschwanden nicht von selbst in den Akten, und Informationen erschienen nicht aus eigenem Antrieb im Computer.
Daher stapelten sich bei Neville die Rückstände auf seinem Schreibtisch. Er wusste um dieses Manko und nahm immer mal wieder einen Anlauf, sei es aus plötzlich übermächtigen Schuldgefühlen oder auch nur aus Langeweile heraus. Zuweilen war es auch eine willkommene Flucht vor etwas, das ihn noch weniger interessierte als die trockenen Fakten eines alten Falls.
Jetzt war ein solcher Zeitpunkt. Der Tod von Trevor Norton hatte ihn nicht so gefesselt wie gehofft. Willkürakte, Gelegenheitsverbrechen, wie dieses eins zu sein schien, gehörten nicht zu den Dingen, die ihn faszinierten. Sie wurden, wenn überhaupt, durch die forensische Arbeit im Labor gelöst, durch eine Menge harter Arbeit ihrer Computerspezialisten oder zuweilen auch durch schieres Glück. Für einen Detective mit Talent und Fantasie, für den er sich hielt, war das nichts.
Trevor Norton war nicht mehr am Leben – er joggte nicht mehr, er arbeitete nicht mehr an seinen Computern, er wartete nicht mehr auf die Geburt seines ersten Kindes -, weil er
mit einem iPod durch die Gegend gerannt war. Punkt. Klipp und klar. Keine menschlichen Emotionen außer Gier und Habsucht im Spiel. Kein verworrenes Knäuel an Motiven zu entwirren, kein vertracktes Geflecht an Alibis.
Die Autopsie hatte auf Anhieb nichts zutage gefördert. Natürlich hatten sie Proben weggeschickt, doch es würde einige Zeit brauchen, bis die Ergebnisse vorlagen. Laut dem Coroner war mit der gerichtlichen Untersuchung erst in ein, zwei Tagen zu rechnen. Die Computer-Asse würden noch eine Weile brauchen, um die Daten auf Trevor Nortons Festplatte hervorzuholen, und es konnte Tage dauern, bis das gesamte Filmmaterial von den Überwachungskameras ausgewertet war. Haus-zu-Haus-Befragungen wurden rund um den Wohnsitz der Nortons und bis zu der Stelle durchgeführt, an der die Leiche gefunden wurde: Routinearbeit – in Nevilles Augen kein Anlass zur Hoffnung, irgendwelche Ergebnisse zu erzielen. Er hatte es Sid Cowley überlassen, das zu organisieren und mit allem weiterzumachen, was sonst noch im Fall Norton getan werden konnte. Was nicht viel war.
Er dagegen wühlte sich unterdessen durch seinen Wust Papier. Der Stapel am Rand seines Schreibtischs türmte sich inzwischen so hoch, dass er umzukippen und herunterzufallen drohte.
Im Moment besaßen diese Berge noch dieselbe Logik wie die Schichten in einem Felsmassiv, die jeweils etwas zu erzählen hatten. Gerieten sie jedoch durcheinander, wäre er aufgeschmissen. Drastische Maßnahmen waren angesagt.
Und es war wie immer eine Reise in die Vergangenheit, eine Alternative zu etwas noch Langweiligerem.
Er nahm ein Formular mit einer Zeugenaussage in die Hand und warf einen Blick darauf. Willow Tree: Bei dem Namen hielt er inne. Ihm kam eine Unterhaltung über Namen wieder in den Sinn, die ihn dazu
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