Schuldig wer vergisst
Hand auf die Stirn.
»Ja. Mir fehlt nichts.« Sie nahm die Tasse Tee. »Danke.«
Yolanda saß am Fußende des Bettes und schaute Rachel beim Trinken zu.
»Wenn Sie jemanden benachrichtigen wollen«, sagte sie, »dann übernehme ich gerne die Anrufe für Sie. Falls Sie es nicht selber machen möchten.«
Rachel sah sie über den Tassenrand hinweg an und schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden.«
»Was ist mit Ihren Eltern?«
»Wie gesagt, die sind im Urlaub.«
Für Yolanda war das eine fadenscheinige Ausrede: Falls Eli gestorben wäre, egal, ob eines natürlichen Todes oder unter mysteriösen Umständen, hätten ihre Eltern mit Sicherheit alles stehen und liegen lassen und wären gekommen, um ihr zu helfen. Unabhängig davon, wo oder in welcher Verfassung sie gerade waren. »Die würden es doch bestimmt wissen wollen«, sagte sie. »Zumindest könnten Sie ihnen die Wahl lassen, zurückzukommen.«
Jetzt starrte Rachel in ihre Tasse und wich Yolandas Blick aus. »Wenn Sie es denn unbedingt wissen müssen«, sagte sie, »ich habe seit Jahren nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen. Ich habe nur behauptet, sie seien im Urlaub, weil das besser klang.«
»Sie haben seit Jahren nicht mit ihnen geredet?«
Rachels Lippen zitterten. »Mein Dad … nun ja, er war wohl das, was man als gewalttätig bezeichnen würde. Er hat mich geschlagen, und zwar oft. Als ich klein war. Er kam oft völlig besoffen aus der Kneipe nach Hause und machte mit mir, was ihm passte. Und Mum … die wollte es gar nicht wissen. Ich hab versucht, es ihr zu sagen, aber sie wollte nichts hören.«
»Ach, Schätzchen.«
»Ich bin von zu Hause weg, sobald ich konnte. Bin nach London gegangen. Hab eine Stelle angenommen, bin Trevor begegnet. Das war’s. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich mich nicht bei ihnen melden will? Oder auch bei meiner Schwester?«
Yolanda war entsetzt, aber es erklärte eine Menge. »Du liebe Güte, Sie armes Ding.«
Rachel zuckte die Achseln. »Ist lange her. Schnee von gestern. Außerdem«, fügte sie sachlich hinzu, »hat es in der Zeitung gestanden, nicht wahr? Inzwischen weiß es wohl jeder.«
Die Zeitungen! Yolanda hatte nicht daran gedacht, in der Sonntagszeitung nachzusehen. Nicht, dass sie ausführlich berichten würden: Die Leiche war erst am Samstag gefunden worden, und Redaktionsschluss für die Sonntagsausgaben war sehr früh. Heute war das vielleicht was anderes. Und sie vermutete stark, dass sie auf Nachfragen von der Presse gefasst sein sollten.
Nicht dass dies hier aus Sicht der Medien ein spektakulärer Mord war. Oder auch aus Sicht der Polizei: Vieles sprach dafür, dass es sich nur um einen gemeinen Raubüberfall handelte, der schiefgegangen war.
Andererseits, dachte Yolanda kurz darauf, stürzte sich die Presse derzeit auf solche Dinge wie Rowdytum und Jugendvandalismus. Sie spielten den Moralapostel, wenn es darum ging, den Verfall der Gesellschaft zu geißeln, der sich in der Zunahme von Straßenkriminalität seitens junger Rüpel manifestierte, die mit ihrer Zeit nichts Vernünftiges anzufangen wussten, keine Kinderstube genossen und keine Werte mitbekommen hatten. Vielleicht würden sie den Fall als jüngsten Beweis für eine Gesellschaft werten, die dem Jugendkult verfallen und aus den Fugen geraten war. Zufällig war Yolanda darin mit ihnen einer Meinung, aber darum ging es nicht. Sie war besser auf einiges gefasst.
Bis dahin war sie entschlossen, bei Rachel auszuharren und sie irgendwie aus ihrer Isolation herauszubekommen. »Was ist mit den Frauen, mit denen Sie gearbeitet haben?«, fragte sie. »Haben Sie zu denen jeden Kontakt abgebrochen?«
Rachel zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Aber ich gehöre auch nicht mehr zu ihrer Welt.« Es klang wehmütig, wie sie das sagte. »Die City scheint weit weg.«
»Fehlt Ihnen das? Ich meine, mit anderen Leuten zu arbeiten?«
»Ja, schon«, räumte sie ein, »ich fühle mich irgendwie ein bisschen einsam.«
»Das gehört, wie alle sagen, zu den Nachteilen, wenn man selbstständig und von zu Hause aus arbeitet.« Es überstieg Yolandas Vorstellungsvermögen, sich auszumalen, wie langweilig es sein musste, den ganzen Tag im eigenen Haus eingeschlossen zu sein. Mit niemand anderem zu reden als dem eigenen Mann. Sie liebte Eli, aber sie konnte sich nicht vorstellen, so zu leben.
»Es war Trevors Idee«, sagte Rachel. »Er brauchte keine anderen Menschen, wissen Sie. Ich habe ihm genügt – hat er immer gesagt. Solange er mich hätte,
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