Schuldlos ohne Schuld
eine erholsame Oase nachzubilden. Er vermag weder Körper noch Seele Erquickung zu schenken. Im Winter, wenn der Schnee seine erbärmliche Hässlichkeit barmherzig zudeckt, gleicht dieser Teil der Stadt am meisten der sibirischen Taiga, und der Springbrunnen verwandelt sich in einen hässlichen alten Kasten, der als allgemeines Kreisverkehrszeichen dient.
Im Westen dagegen, wo man die ursprüngliche Bebauung in Frieden ließ, bekommt die Straße Charakter und weist sogar eine Rückseite auf. Hier gibt es immer noch künstlerisch gestaltete Haustüren aus edelster Eiche, aber auch Winkel und einfache, mit Riegeln versehene Schiebetüren, hinter denen sich Gänge verbergen, die zu Kellern mit Warenlagern häufig wechselnder Kategorien hinabführen. Kleine naseweise Querstraßen, manchmal nicht viel breiter als Gassen, bieten Raum für eigenartige Geschäfte mit ebenso individualistischen Inhabern. Es gibt auch lichtscheue Stellen wie Spielhöllen oder andere, fleischlichere Vergnügungsplätze.
Die Restaurants sind klein und anspruchslos, manchmal freundlich und einladend, gelegentlich abweisend kühl gegenüber dem, den man nicht kennt. Wie bestimmte Wohnungen in den Häusern sind sie Treffpunkte für Geschäftsleute ganz anderer Art als jene, die ihren Handel am Tag treiben. Hier kann der Kundige, wenn er vertrauenswürdig erscheint, um den Preis importierten verpackten Schnees aus den Wäldern Südamerikas feilschen oder verbotene Tabakwaren kaufen, die es auf den geheimen Wegen hierher verschlagen hat. Bezahlt wird oft mit Dingen, die aus nachlässig bewachten Villen oder aus Wohnungen der Oberschicht organisiert wurden. Die Preise für Schmuck, Markenuhren und Autoradios sind hier erschwinglich. Kaum ein Diebesgut, das sich in dieser Gegend nicht wiederfände, kaum ein Delikt, das hier nicht vertreten wäre.
Ein Fremder, auch wenn er von sehr weit herkommt, merkt schnell, dass er seine Fremdheit mit fast allen in diesen Straßen teilt. Deshalb hat die Straße keine eigene Sprache. Sie ändert sich von Straßenecke zu Straßenecke oder von Barhocker zu Barhocker. Wer sich nachts hier aufhält, kennt nur wenige Menschen und kann sich daher nicht unterhalten. Auch wenn sie eine gemeinsame Sprache hätten, wüssten sie nicht, ob sie auf einen Freund oder Feind gestoßen sind. Das Misstrauen ist deshalb groß, und es wird von allen geteilt.
Am größten ist jedoch das Misstrauen gegen diejenigen, die schon von Geburt an Aufenthaltserlaubnis im Land und in der Stadt besitzen. Ihr Verhalten gegenüber Fremden ist überheblich, rücksichtslos oder im besten Fall gleichgültig. Sie betrachten sie am Tag als billige Arbeitskraft oder häufiger noch als Sozialhilfeempfänger. Nachts aber verwandeln sich diese überflüssigen Eindringlinge in ihren Augen in Langfinger und Mörder, in Drogenhändler, Messerstecher und Autodiebe. Die Gerechtigkeit teilt diese Auffassung. Deshalb besteht der Kontakt zwischen den Einheimischen und den Fremden in einem permanenten Guerillakrieg, in dem man von den Verfolgern in erster Linie verlangt, dass sie sich verstecken, dass sie ruhig bleiben und dass sie sich nicht in Dinge einmischen, mit denen andere beschäftigt sind. In diese Gegend hat Martin, ebenso unsichtbar wie die anderen, sein Jagdfeld verlegt, und es ist auch der Ort, an dem er seine Beute erlegen will.
13
Die alte Frau ist hager wie eine Krüppelkiefer, ihre Füße sind aber in Ordnung. Nur der Kopf und der Hals ragen über die Theke, als sie einen Anlauf nimmt und sich räuspert. Laut und durchdringend wie ein Eichelhäher. Martin sitzt am Tisch direkt daneben und hört, wie es in den kaputten alten Bronchien rasselt, und er weiß, was sie sagen will.
»Raus hier, ihr zwei!«
Der Mann aus dem Iran, der den Tisch in der Ecke unter dem alten Plakat gewählt hat, sitzt allein und beißt an seinen Fingernägeln. Er begreift nichts. Außer ihm und Martin befinden sich keine anderen Gäste im Lokal. Das Café schließt immer am Abend um halb neun. Andererseits öffnet es bereits morgens um halb sechs. Dann kommen die Arbeiter von der Nachtschicht her. Sie schätzen die tellergroßen Sandwichs mit doppelseitig gebratenem Ei auf Roggenbrötchen oder die selbstgebratenen Frikadellen, die auf einem Berg von süßsaurem Roterübensalat thronen. Vor allem schätzen sie die Preise, die die Inflation nie in Mitleidenschaft gezogen zu haben scheint.
Die Alte muss um die Achtzig sein. Sie hat Abendschicht an diesem langen Arbeitstag.
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