Schuldlos ohne Schuld
Bürden befreien wollen, die er auf sich genommen hat. Er ist eine sehr bedeutende Persönlichkeit, viele sind der Ansicht, er sei die bedeutendste von allen.
Nie zuvor ist Martin jemandem so nahe gekommen, der uneingeschränkt die absolute Macht vertritt. Martin sieht ihn mit dunklen Augen an. Es ist nicht der Mann, den er betrachtet, sondern das, was er vertritt. Die Macht. Diese Macht, die ihm, Martin Larsson, ein anständiges Leben verweigert hat, die ihn erniedrigt, verurteilt und zerbrochen und dann von sich weggeschoben hat wie einen Aussätzigen. Diese Macht und also auch der Mann dort tragen die Verantwortung für Martins qualvolles Leben mit all seinen Demütigungen und Niederlagen.
Es blitzt in Martins Kopf auf, und er beginnt halblaut zu murmeln. Nur mit großen Schwierigkeiten gelingt es ihm, sich zum Schweigen zu bringen.
Plötzlich sieht er, wie sich der Iraner von vorhin in den innersten Kreis drängt. Viele schnappen heftig nach Luft, aber dann verwandelt sich ihre Bestürzung in Überraschung. Schließlich sind alle sehr angetan von dem, was sie beobachten dürfen. Der Perser bleibt in respektvollem Abstand vor dem Mächtigen stehen. Mit einstudierter Würde legt er seine rechte Hand auf das Herz, und dann verbeugt er sich mehrmals tief, während er einige unverständliche Worte äußert. Zwei Frauen beginnen zu applaudieren, finden aber keine Nachfolger und werden schnell still.
Theater! Welch eine lächerliche, erbärmliche Theatervorstellung! Martin kann nur schwer ein höhnisches Lachen zurückhalten. Er sieht sich um. Rund um sich sieht er die gleichen speichelleckerischen Gesichter und gebeugten Rücken. Vielleicht wird ihm gerade jetzt zum ersten Mal bewusst, dass die Beute in Sicht ist. Er jagt Hochwild, und er weiß jetzt schon, dass er bereits in dieser Nacht den tödlichen Schlag austeilen wird.
Da öffnen sich die Türen des Kinosaals, und alle haben es eilig, ihre Plätze aufzusuchen. Die Kreise lösen sich auf, aber der leere Raum rund um den Mächtigen bleibt bestehen. Auf dem Weg in den Saal hält er einmal inne und wendet sich um. Obwohl einige Meter zwischen Martin und ihm liegen, sehen sie einander für einen kurzen Moment in die Augen. Es sind prüfende, wachsame Augen, denen Martin begegnet. Der andere ist es gewohnt, schnell zu beurteilen, wen er vor sich hat, aber er weiß auch, dass die Gefahr überall lauert und dass sie in den unberechenbarsten Formen auftreten kann. Er ist nicht abgeneigt, Risiken einzugehen, aber er glaubt auch, dass er sich auf seine Intuition verlassen kann. Dennoch ist er nicht bescheiden genug, die Warnsignale ernst zu nehmen, die keine Stütze in seiner Intelligenz, Logik oder seiner Erfahrung finden. Deshalb geht er – wie so viele seinesgleichen – davon aus, unverwundbar zu sein.
Und trotzdem! Zieht er nicht die Augenbrauen zusammen in dem sekundenschnellen Schmerz oder Gefühl, dass dort eine Bedrohung existiert und das diese Bedrohung nur gegen ihn gerichtet sein kann? Gegen wen sonst? Zögert er, ob er weiter in den Saal gehen oder stattdessen den Schutz herbeirufen soll, den ihm niemand verweigert? Kommt diese rasch vorübergehende Unruhe daher, dass Martin ihn immer noch anstarrt und sich weigert, den Blick zu senken? Der Mächtige verlässt sich auf sein Urteil. Ist er nicht gewohnt, dass Leute ihn anstarren, wenn er ihnen im Freien begegnet? Warum sucht er nach Respekt und Achtung in diesem hoch gewachsenen Mann? Er weiß, dass es viele gibt, die ihn verachten. Die Augen dort sind nicht gehässiger als bei den meisten seiner Gegner, zudem wirken sie dümmlich.
Deshalb schüttelt er alles mit einem irritierten Achselzucken ab. Man hat ihn davor gewarnt, sich ohne Leibwache auf die Straßen der Stadt zu begeben. Er hat bereits früher Warnungen in den Wind geschlagen. Wie alle großen Männer hat er das Bedürfnis zu beweisen, dass er einfach ein freundlicher Mensch unter allen anderen freundlichen Menschen sein kann. Nichts erstrebt ein Machthaber mehr als ein Bild von sich, als einem im Grunde anspruchslosen und freundlichen Menschen, zu schaffen. Dies verstärkt den Eindruck von seiner eigenen Größe. Er ist ein Sohn des Volkes, der mit erstaunlichen Eigenschaften begabt ist.
Trotzdem bleibt er noch einmal an der Tür des Kinosaals stehen. Er sucht mit seinen Blicken den unbekannten Mann in der schwarzen Jacke und kann ihn zunächst nicht mehr entdecken. Dann glaubt er sicher zu sein, den Rücken des Unbekannten zur Straße hin
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