Schuldlos ohne Schuld
steht da und brummelt und zetert. Manchmal beißt sie sich auf die blutlosen Lippen, als wolle sie sich selbst zum Schweigen bringen.
Ein richtiger Muffel!
Als sie merkt, dass Martin Augenkontakt mir ihr sucht, dreht sie ihm demonstrativ den Rücken zu. Deutlicher kann sie nicht zeigen, dass sie jetzt wie auch sonst immer Abstand hält von dem, was auf der anderen Seite der Theke geschieht, und das gilt für alle, die meinen, sie wären ihre Gäste.
Neben der Kaffeemaschine und dem Zigarettenautomaten befindet sich eine Tür, die in einen kleineren Raum führt, der gleichzeitig Speisekammer und Müllsammelstelle ist. Dort bereiten die Alte und ihr ebenso mürrischer Mann die Sandwiches für den Tag zu und waschen das Geschirr ab. Dorthin nimmt sie ihre Zuflucht, und als sie die undichte Tür hinter sich zuzieht, ist die Botschaft deutlich und klar: Das Café ist für heute Abend geschlossen.
»Verdammter Idiot«, brummt Martin enttäuscht, und es ist unklar, wen er meint.
Der Iraner ist gerade unten an der Avenue angekommen und biegt nun um die Ecke, als Martin auf die Straße tritt. In Martin kocht die Wut noch, und sein erster Gedanke ist, den anderen zu packen und die Angelegenheit zu regeln. Man denke sich, der Kerl spuckt auf ihn! Obwohl sie einander nicht kannten und sich noch nie zuvor getroffen hatten!
Martin hat die Hand in der Jackentasche und umfasst schon den Revolvergriff. Irgendwie beruhigt ihn das. Auf halbem Weg hinunter zur Avenue schwindet der Zorn. Er bleibt stehen und murmelt ein wenig vor sich hin, während er zum Himmel hinaufsieht, wo der Mond zwischen zerrissenen Wolkenfetzen hervorguckt.
Ach was! Er kümmert sich nicht um so wertloses Kleinwild. Nicht weil …
Nur sehr wenige Menschen sind in der Stadt unterwegs. Das Wetter hält wohl die meisten im Haus. Zwar hat es zu schneien aufgehört, aber es ist trüb und unfreundlich. Die Temperatur liegt nur wenige Grade über Null. Martin zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch und stellt den Kragen auf. Er hat einen langen Abend vor sich.
Der Autoverkehr ist mäßig an diesem Abend. Der Abstand zwischen den Autos ist ebenso groß wie der Abstand zwischen den Fußgängern auf den Gehwegen. Ein Polizeiwagen defiliert gemächlich die Avenue entlang. Die eine oder andere gelangweilte Gestalt dreht sich um und folgt dem Blaulicht mit einem hasserfüllten oder zumindest misstrauischen Blick. Nur ein Herr mit Spazierstock scheint die Gegenwart des Gesetzes zu schätzen. Es handelt sich um keinen Einsatz, nur um eine routinemäßige Machtdemonstration derer, die aufgestellt sind, das Gesetz zu vertreten.
Vor einem Kino hat sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt, die auf das Ende der ersten Vorstellung wartet.
Martin geht fast nie ins Kino. Er sieht sich keine Videos an und gedenkt auch nicht, sich einen Recorder anzuschaffen. Nicht etwa, weil er nicht lange genug stillsitzen könnte, sondern weil er keinen Platz für andere Gedanken als seine eigenen hat.
Es ist etwas Merkwürdiges an diesem Kinopublikum. Martin spürt das bereits aus großer Entfernung, und es wird immer deutlicher, je näher er kommt. Die Leute benehmen sich in ganz ungewöhnlicher Wiese zurückhaltend. Es ist, als hätte sich eine Art magnetisches Zentrum inmitten der Menschenmenge gebildet. Von diesem Zentrum breiten sich immer weitere Kreise auf den Gehwegen aus, und alle Blicke sind auf ein und denselben Punkt gerichtet. Die Menschen verhalten sich gedämpfter als gewöhnlich. Man hört kein Gegröle, und die Unterhaltungen sind leise. Der eine oder andere deutet mit dem Finger. Sogar die jungen Leute verhalten sich ordentlich und ruhig.
Martins Neugier wächst, und er bahnt sich einen Weg durch den äußeren Kreis. Das geschieht nicht ohne Behinderungen, und er muss mehrere empörte Blicke hinnehmen. Trotzdem schenkt ihm eigentlich niemand Beachtung. Der Anziehungspunkt befindet sich dort in der Mitte. Andere, die Martins Beispiel folgen, verhalten sich bescheidener. Sie bitten um Verzeihung und erklären, dass sie auf dem Weg zur Kasse sind, um sich Karten zu besorgen.
Martin entschuldigt sich nicht. Damit hat er schon lange aufgehört.
Dann erblickt er den Mann, der die Ursache des Auflaufs ist, und erkennt ihn sofort. Es gibt kaum ein bekannteres Gesicht im ganzen Land. Alle wissen, dass auf seinen Schultern die Verantwortung für die ganze Nation ruht. Der Mann ist beliebt, aber auch umstritten, und es gibt viele, die ihn von den
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