Schuldlos ohne Schuld
Der Kaffee kocht in einer Maschine. Dann stellt sie den Imbiss auf die Glasscheibe oberhalb der Theke und nimmt die Bezahlung entgegen. Gott weiß, warum sie und ihre Bohnenstange von Mann hierher geraten sind. Sie kommen aus dem hohen Norden und sind redselig wie Muscheln. Martin kann sich nicht erinnern, einem von ihnen ein einziges Mal direkt in die Augen geschaut zu haben. Sie wenden den Blick immer auf eine abweisende Weise ab, als wollten sie nicht diese eine Wirklichkeit wahrnehmen. Wahrscheinlich sehnen sie sich immer noch heim in die tiefen, schweigenden Wälder oder woher sie auch kommen mögen. Sie zeigen nie ein Zeichen des Wiedererkennens. Sie scheren sich ganz einfach nicht um ihre Gäste. Die Einrichtung des Lokals könnte nicht kärger sein. Einige bejahrte Plakate von Erfrischungsgetränken, die schon Sammlerwert bekommen haben, vergilben an den Wänden. Ein grässliches Ölgemälde mit Alpenmotiv und einer weidenden Kuh in der Mitte hängt über der Theke. Tische wie Stühle sind abgenutzt und wackelig, dafür aber nicht unbequem. Der Platz könnte ein Schlupfwinkel für Holzfäller im tiefen Wald sein. Trotzdem liegt er nur einen Steinwurf von der Avenue entfernt.
Martin geht seit einer Weile abends hierher. Wie immer fühlt er sich einsam, sogar einsamer als vorher. Aber er leidet nicht mehr so sehr darunter. Jetzt ist es für ihn unerlässlich, sich von allen anderen fern zu halten, und hier hat er keine Schwierigkeiten, in Frieden gelassen zu werden. Das Café ist ein verstecktes Wasserloch, ein Erholungsplatz, wo er sich während der Beobachtung ausruht. Einige wenige Male wechselt er einen Blick mit anderen verirrten Cafégästen. Manchmal liegt eine Spur Geringschätzung in ihren Augen, meistens aber überhaupt nichts.
Die Alte wird unruhig. Sie will schließen. Sie muss noch eine halbe Stunde aufräumen, und morgen früh übernimmt dann ihr Mann. Martin hat keinen Grund, widerspenstig zu sein. Er erhebt sich gemächlich und knöpft die Jacke zu. Der Revolver schlägt gegen den Schenkel, und das wirkt vertraut und beruhigend. Dann wendet er sich zu dem Iraner um, der noch immer dasitzt, an seinen Nägeln kaut und nichts versteht.
»Die schließen jetzt«, sagt Martin etwas barsch und auffordernd, während er gleichzeitig sein breites, wohlwollendes Lächeln lächelt.
Der Mann zuckt zusammen, und Martin sieht, wie seine Halsmuskeln sich straffen. Die Augen sind schwarz und glänzen wie Kohle. Dann zischt er einen langen Wortschwall in seiner Muttersprache heraus, steht auf und ballt die Fäuste, als ob er glaubt, sich verteidigen zu müssen.
Martin tritt überrascht einige Schritte zurück. Sein Lächeln ist nun verschwunden, und er runzelt die Stirn. Was ist mit dem Menschen los?
»Ruhe jetzt«, sagt Martin, aber die Tonlage ist viel zu hoch, um den anderen dämpfen zu können.
»Sag nichts mehr!«
Es klingt wie ein Befehl von Martin, er brüllt den anderen an. Ihr Größenunterschied ist fast grotesk. Martin ist mindestens einen Kopf größer, und er ist einige Gewichtsklassen schwerer. Auch wenn der andere Angst hat, zeigt er es nicht. Er drängt sich mit stolz zurückgeworfenem Kopf in die Nähe von Martin, und die unverständlichen Worte strömen weiter aus seinem Mund. Es sind ausschließlich Beleidigungen und Flüche, mit denen er um sich wirft.
Dann muss er plötzlich begriffen haben, dass die Worte keine Wirkung haben, dass sie nicht ankommen können. Er verstummt ebenso abrupt, wie er angefangen hat. Noch immer starrt er voll Hass auf Martin, aber dann verändert sich sein Gesichtsausdruck, und er beginnt, die Augen gen Himmel zu drehen, als hätte er einen Dorftrottel vor sich. Die kann man auf weite Entfernung riechen.
Martin schweigt, aber sein Gesicht ist ernst, fast nachdenklich. Der Iraner zuckt die Achseln und drängt sich vorbei. In der Türöffnung dreht er sich mit einer letzten stolzen Kopfbewegung um. Dann zielt er sehr sorgfältig und – spuckt! Ein saftiger Spuckbatzen landet kurz vor Martins Füßen.
Wer würde bei einem solchen Verhalten nicht verwirrt werden? Martin schüttelt den Kopf. Er begreift das Ganze nicht. Dann spürt er, wie ihm das Blut in den Kopf schießt. So etwas darf er nicht hinnehmen.
»Hast du das gesehen?«, schreit er und wendet sich an die alte Frau, die hinter der Theke Trübsal bläst. Diese verdammten Ausländer!
Ausnahmsweise schweigt die Alte nicht. Trotzdem versteht Martin nicht ein einziges Wort von dem, was sie sagt. Sie
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